Das Buch Rubyn
können? Möglicherweise war der Kahlkopf bereits auf der Spur der Chronik des Lebens. Michael war bereit gewesen, dem Buch den Rücken zu kehren, als er noch keine andere Möglichkeit gesehen hatte, Emma zu retten. Aber jetzt, da sie die Chance hatten, Emma zu erlösen, wenn sie das Buch bekamen, mussten sie diese Chance auch ergreifen. Selbst wenn es für Michael bedeutete, allein in den Vulkan zu gehen.
Immerhin hatte er das Rätsel mit den Tränken in Malpesa gelöst. Er konnte es schaffen!
Am Ende gab Gabriel nach. Michael hatte recht und Gabriel wusste das.
Gabriel kniete sich hin und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Es war ein Geschenk von Robbie McLaur, dem König der Zwerge von Cambridge Falls. Die Klinge war gut dreißig Zentimeter lang und überraschend leicht. Sie durchschnitt Knochen so mühelos wie Papier, behauptete Gabriel. Und sie war völlig nutzlos im Kampf gegen einen Drachen, was sowohl Gabriel als auch Michael wussten. Dennoch bedankte sich Michael und steckte das Messer in seinen Gürtel. Er fühlte sich trotz allem besser, weil er Zwergenstahl bei sich trug.
»In meinem Volk gibt es ein Sprichwort«, sagte Gabriel und legte ihm schwer die Hand auf die Schulter. »Ein Mann kann nur einmal sterben.«
Michael fragte sich, ob das eine Ermutigung sein sollte.
»Das ist … gut zu wissen.«
»Erinnerst du dich noch an jenen ersten Morgen in meiner Hütte? Nachdem ich euch vor den Wölfen gerettet hatte?«
»Ja.«
»Du hattest deine Schwestern an die Gräfin verraten, weil du hofftest, dass sie dir als Gegenleistung helfen würde, deine Eltern zu finden. Erinnerst du dich?«
Michael starrte zu Boden. Ob er sich erinnerte? Die Erinnerung daran verfolgte ihn Tag und Nacht. Es war das Schlimmste, was er je getan hatte. Durch seine Dummheit und seine Schwäche hätte er beinahe das verloren, was ihm am meisten bedeutete: die Liebe seiner Schwestern. Allein daran zu denken, bereitete ihm Qualen, und trotzdem hatte Michael in den neun Monaten, die seit jenen Ereignissen in Cambridge Falls vergangen waren, immer wieder vor seinem geistigen Auge abgespult, was er getan hatte, hatte sich gehasst und verflucht und sich immer wieder geschworen, dass er Kate und Emma nie wieder im Stich lassen würde, egal, was passieren mochte.
»Schau mich an.«
Michael hob den Kopf und blickte Gabriel in die Augen.
»Du bist nicht mehr der Junge von damals. Tag für Tag entscheiden wir, allein durch unsere Taten, wer wir sind. Deine Schwestern können sich glücklich schätzen, dich als Bruder zu haben. Und mir ist es eine Ehre, dich meinen Freund zu nennen.«
Michaels Kehle wurde eng. Er brachte kein Wort heraus, sondern konnte nur nicken. Dann wischte er sich über die Augen und umarmte seine Schwester. Er drückte die dünnen Arme an ihrer Seite und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich komme bald wieder.« Dann drehte er sich um und folgte dem letzten Wächter der Chronik des Lebens die Treppe hinunter.
In dem großen Saal im Erdgeschoss angekommen, starrte Michael auf die Öffnung im Boden, hinter der die Mündung des Tunnels lag. Der Wächter drehte an einem eisernen Griff, der an einer Säule angebracht war. Eine Kette klirrte und rasselte, und dann hob sich das eiserne Fallgitter.
»Sie wird merken, dass du kommst.«
»Sie? Der Drache ist ein Weibchen?«
»Oh ja. Also, du hast nichts zu befürchten, wenn du der wahre Hüter des Buches bist. Sie dient dem Buch und das Buch dient dem Hüter.«
»Okay.«
»Wenn du allerdings nicht der wahre Hüter bist, wird sie dich vermutlich fressen.«
»Okay.«
»Vielleicht röstet sie dich erst.«
»Okay.«
»Vielleicht verschlingt sie dich aber auch roh.«
»Ich hab’s kapiert.«
Das Tor war offen. Michael stand da und fühlte die sengende Hitze wie eine Welle über sich hinwegrollen.
»Machen Sie das Tor nicht zu«, sagte er und ging die Stufen hinab.
Es war genauso wie in seinem Traum.
Der lange Tunnel.
Das rote Glühen in der Ferne.
Die alles versengende brennende Hitze.
Nur war dies kein Traum, sondern Wirklichkeit, und Michael wusste, was vor ihm lag.
Ein paar Meter hinter dem Fallgitter beschrieb der Tunnel einen Bogen und verlief dann geradewegs immer weiter abwärts. Der schwarze poröse Fels fühlte sich warm an und in der Luft lag der bittere Geruch nach Schwefel. Anfangs schritt Michael so entschlossen aus, weil er an Emma dachte, die erstarrt oben im Turm saß. Aber mit jedem Meter, den er zurücklegte, wurde der Sog der Chronik des Lebens
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