Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
so langer Zeit bewahrt wurde. Als sich ihr schließlich die Wahrheit offenbarte, da war die Erkenntnis schockierend und läuternd zugleich, eine reinigende Katharsis, wie kein irdischer Dichter sie ersinnen konnte.
Eine Schrift von solcher Wichtigkeit, dass sie die Geschicke der Welt verändern konnte – so hatte ihr Vater das Buch von Ascalon einst genannt. Nun endlich wusste Chaya, was er damit meinte.
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Bestürzung stellte sie fest, dass sie ihn nun besser denn je verstand. Alle weltlichen Belange und menschlichen Bindungen, selbst die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter, verblassten angesichts jener ungeheuren, alles verändernden Enthüllung, von der das Buch berichtete. Der Abschied von der alten Heimat, die Entbehrungen der langen Reise, selbst die zahllosen Ängste, die Chaya durchlitten hatte, all das war bedeutungslos geworden.
Nicht alles, was in jenen altertümlichen Zeichen geschrieben stand, hatte Chaya erfassen können, manches davon war in Rätsel gehüllt; aber sie kannte nun den Grund, weshalb das Buch unbedingt nach Antiochia gebracht werden musste, wo ihr Onkel Ezra sie erwartete.
»Nun, Vater?«, fragte sie, als sie den Vorhang beiseiteschlug und in die Kammer trat, die in den letzten Wochen als Krankenquartier gedient hatte. Der Schein der Morgensonne fiel durch die Fensteröffnungen und tauchte den kleinen Raum in warmes Licht. »W ie fühlst du dich?«
Isaac saß auf der Kante seines Lagers, das Gesicht in den Händen vergraben. Nach all den Wochen, in denen er dar n iedergelegen hatte, tat es gut, ihn wieder aufrecht zu sehen, zumal es Tage und Nächte gegeben hatte, da Chaya nicht mehr daran geglaubt hatte. Er schaute zu ihr auf. Seine Züge waren schmal und ausgezehrt, die Augen noch immer dunkel gerändert. Aber es war nicht mehr die Miene eines Mannes, der vom nahen Tod umfangen war, sondern der allmählich wieder zu Kräften kam.
»W ie ich mich fühle?« Isaacs schmallippiger Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln. »W ie würdest du dich fühlen, wenn du deinem eigenen Ende nur knapp entgangen wärst?«
»Ich wäre dankbar«, erwiderte sie und ließ sich neben ihm auf der Bettkante nieder. In ihren Händen hielt sie eine tönerne Schüssel, die einen zähflüssigen Brei enthielt, der aus Hirse und getrockneten Früchten zubereitet war und den sie ihm nötigenfalls Löffel für Löffel einzuflößen gedachte. »Und ich würde den Herrn auf den Knien für das Wunder preisen, das er vollbracht hat.«
»V on welchem Wunder sprichst du? Einem armen, alten Narren das Leben zu retten?«
»Einem armen, alten Narren, der eine Mission zu erfüllen hat«, brachte Chaya lächelnd in Erinnerung.
Isaac nickte, ohne das Lächeln zu erwidern. Dabei blickte er an sich herab auf den Köcher, der um seine Brust hing. »Als ich im Fieber lag, wurde ich von Albträumen verfolgt und düsteren Visionen. Und bisweilen wünschte ich mir, nicht ins Leben zurückzukehren.«
»V ater!« Chaya schüttelte den Kopf. »So etwas darfst du nicht sagen! Ich brauche dich!«
Der alte Isaac hob den Blick. Resignation stand in seinen tief liegenden, müden Augen. »Deine Mutter, Chaya … ich konnte ihre Nähe fühlen. Das Verlangen, zu ihr zu gehen und wieder mit ihr vereint zu sein, war übermächtig.«
»Dennoch hast du ihm nicht nachgegeben«, hielt Chaya dagegen, blinzelnd, um ihre Tränen zu vertuschen. Damals, n ach dem Tod ihrer Mutter, hatte sie denselben resignierenden Ausdruck in seinen Augen gesehen. Hatte sie ihren Vater mit Mühe den Klauen des Fiebers entrissen, damit er nun zurückfiel in die alte Lethargie? »Du hast nicht aufgegeben, sondern bist ins Leben zurückgekehrt.«
»Aber wozu?« Er zuckte mit den Schultern, die sich dürr und kantig unter seiner Tunika abzeichneten. »W as ist das für ein Leben, Chaya? Ein stolzer Kaufmann bin ich einst gewesen, wohlhabend und einflussreich – und nun sieh mich an! Ein alter Narr bin ich geworden, der einem Traum nachjagt und darauf hofft, dass die Geschichte ihn nicht einholt. Und du, meine Tochter? Eine glänzende Zukunft hatte ich mir für dich ausgemalt, an der Seite eines Mannes, der dich achtet und ehrt und dem du Kinder schenkst, an denen sich mein Herz erfreuen kann. Und nun?«
»W äre ich in Köln zurückgeblieben und hätte Mordechai geheiratet, so wäre ich elend verkümmert«, erwiderte Chaya, um Fassung bemüht. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr die Zweifel ihres Vaters
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