Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
träfe. Manchmal, so sagte er, sei es falsch, auch die andere Wange hinzuhalten.
Als sie aufbrachen, begleiteten sie fast alle Frauen und viele Männer des Dorfes bis zum Fluss, küssten und umarmten sie, sprachen Gebete für den guten Fortgang ihrer Pilgerfahrt und winkten ihnen lange nach. Erst als sie hinter einer Biegung zurückblieben, atmete Aelvin leise auf, und er sah, dass Favola und die anderen dasselbe taten. Ihnen allen war, als könnte es keinen Schrecken geben, der diesen einen überträfe, und für eine Weile machte ihnen das beinahe neuen Mut.
Insgeheim aber kannten sie die Wahrheit: Der Anblick der verstümmelten Dorfbewohner war womöglich nichts als ein Vorgeschmack auf das, was ihnen selbst bevorstand.
*
Sie alle hatten Angst, auch wenn sie nur selten darüber sprachen. Die steilen dunklen Wälder hatten an Bedrohlichkeit zugenommen, und jedes Rascheln im Geäst, jedes Knirschen der schneeschweren Zweige und Tannenwedel ließ sie aufhorchen. Die alte Heerstraße war von beiden Seiten des Ufers gut einzusehen, und es gab keine Möglichkeit, abseits davon durch das dichte Unterholz zu wandern. Die zahllosen Windungen, in denen sich die Morava nach Süden schlängelte, eigneten sich vortrefflich für Hinterhalte, und nicht selten seufzte einer von ihnen erleichtert, wenn sie eine weitere Kurve umrundet hatten, ohne dahinter erwartet zu werden. Als am dritten Tag heftige Schneefälle einsetzten, waren si e t rotz der nassen, schweren Flocken nahezu dankbar, denn sie hofften, dass bei solch einem Wetter auch die Räuber in ihren Unterschlupfen blieben.
Sie kamen schlecht voran, mussten mehrfach einen Schutz zwischen den Bäumen aufspannen und darunter Deckung suchen, und ihre Stimmung hätte kaum niedergeschlagener sein können. Sie redeten nicht viel, nur Aelvin und Favola verständigten sich dann und wann mit Blicken oder wechselten ein paar Worte mit Libuse. Ein einziges Mal fanden sie eine Stelle nahe der Straße, die es Libuse erlaubte, das Erdlicht heraufzubeschwören, aber sie war danach so entkräftet, dass die anderen entschieden, nur noch im schlimmsten Fall darauf zurückzugreifen. Stundenlang war Libuse so geschwächt, dass ihr nicht einmal Widerworte einfielen.
Dies war ihre Lage, als sie am zweiten Tag nach ihrem Abschied von den Dorfbewohnern aus ihrem eintönigen Marsch gerissen wurden.
Hinter ihnen wurde Hufschlag laut.
Corax war der Erste, der darauf aufmerksam wurde, und mit einem Zeichen gab er allen zu verstehen, keinen Laut mehr von sich zu geben. Frierend und ausgelaugt verharrten sie in derselben lang gezogenen Reihe, in der sie schon seit Stunden wanderten, und horchten in die Stille der Wälder.
» Runter! «, rief Corax einen Augenblick später. » Runter von der Straße! «
Und dann rannten sie, stolperten, fluchten über die Behäbigkeit der beiden Maultiere und kauerten sich schließlich hinter einer Bodenwelle am Waldrand in den Schnee, obgleich sie wussten, dass dies ein jämmerliches Versteck war. Zudem waren die Maultiere zu hoch, um völlig hinter der Erhebung zu verschwinden.
Angespannt starrten sie durch das lichte Geäst zurück zur letzten Kurve, auf die steile Felswand, die dort den Blick auf die dahinter liegende Straße verwehrte.
» Was ist mit unseren Fußspuren? «, zischte Libuse.
Sie bekam keine Antwort. Es schneite noch immer, aber längst nicht heftig genug, um ihre Stapfen innerhalb so kurzer Zeit unsichtbar zu machen.
Jetzt hörten sie es alle. Das Getrampel vieler Pferdehufe, gedämpft vom Schnee auf dem Weg und in der Luft, stumpf und dröhnend wie der Lärm einer fernen Lawine, die von den Gipfeln herabdonnerte.
» Kann er das sein? «, flüsterte Favola ganz nah an Aelvins Ohr. Instinktiv lösten ihre Hände das Bündel mit dem Luminaschrein vom Rücken und pressten es schützend gegen ihre Brust.
» Gabriel? Nie im Leben. « Aber seine Zuversicht klang so gekünstelt, dass kein Kind darauf hereingefallen wäre.
» Still! « Albertus ’ Hand krallte sich in Aelvins Mantel. » Kein Wort mehr! «
Lauter wurde das Donnern, lauter und lauter.
Dann preschten die ersten Reiter um die Biegung, zunächst grau und kaum sichtbar jenseits der Schneeflocken, dann aber immer näher, immer klarer.
Es waren viele, weit über zwanzig, aber genau ließ sich das nicht erkennen, denn die ersten Reiter verbargen jetzt den weiteren Verlauf der Straße und es war nicht auszumachen, ob der Trupp schon ein Ende hatte oder ob immer noch mehr Pferde um
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