Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
gesprochen werden, und darum seien sie dankbar, dass Albertus ihre Einladung angenommen habe.
» Was ist mit ihren Männern geschehen? «, fragte Favola.
Corax redete abermals auf die Anführerin ein. Schließlich nickte sie, beschwichtigte den Widerspruch einiger anderer Frauen und rief etwas in die Runde.
Aus der Dunkelheit der Behausungen traten ein Dutzend Gestalten ins Tageslicht, Männer, aber auch Jungen. Alle trugen Tücher vor ihren Gesichtern, die sie bis unter die Augen heraufgezogen hatten; im ersten Moment sahen sie dadurch selbst aus wie Räuber, die sich für einen Überfall maskier t h atten. Zögernd näherten sie sich den Besuchern in der Mitte des Dorfplatzes.
Die Sprecherin des Dorfes trat auf einen zu, der wohl ihr Ehemann oder Bruder war, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn. Ihre Blicke trafen sich, und beide hatten Tränen in den Augen. Dann pellte der Mann, ein kahlköpfiger Serbe mit harten, ausgehungerten Zügen, das Tuch von seinem Gesicht.
Aelvin spürte, dass Favola wieder nach seiner Hand tastete, doch diesmal fühlte er nichts dabei.
» Was ist mit ihnen? «, flüsterte Corax.
Libuse konnte nicht antworten. Die Männer des Dorfes nahmen nun die Tücher ab, einige mit einem einzigen harten Ruck, andere vorsichtig, mit gebeugten Rücken, als zwänge der Schmerz sie in die Knie. Manche stießen ein leises Wimmern aus, doch es gab auch Männer, die ihre Verstümmlungen zeigten, ohne eine Miene zu verziehen.
Sichels Räuber hatten ihnen die Nasen abgeschnitten. Einem jeden hatten sie das Nasenbein entzweigehackt und das Fleisch mitsamt der Oberlippe fortgerissen. Klaffende schwarzbraune Wunden hatten gerade erst begonnen, Narbenwülste zu bilden; manche waren noch immer dick verkrustet. Die obere Zahnreihe lag bei allen bloß, darüber schimmerte die Ruine des Nasenbeins: ein gelblicher, zersplitterter Dorn, der wie ein geborstener Schnabel aus dem Fleischkrater ragte.
Aelvin wollte den Blick abwenden, aber er konnte es nicht. Wie in Trance sah er von einem der Männer zum anderen.
Die Anführerin der Frauen redete mit tränenerstickter Stimme auf Corax ein, doch das nahm Aelvin kaum wahr. Erst als der Ritter selbst das Wort ergriff, war es, als packte jemand Aelvin am Kragen und zerrte ihn aus einem Pfuhl aus Schmerz und Schrecken zurück ans Tageslicht.
» Etwa die Hälfte der Leute sind an den Verletzungen gestorben «, sagte Corax. » Verblutet oder an entzündeten Wunden. Sichel hat die Nasen an den Schnauzbärten zu einer Kette zusammenbinden lassen und sie sich um den Hals gelegt wie einen Rosenkranz. «
Albertus, Favola und sogar Aelvin bekreuzigten sich.
Rundum zogen die Männer ihre Tücher und Verbände zurück über die Wunden, einige warfen sich herum und stolperten zurück in die Hütten, um sich vor der Welt und sich selbst zu verstecken. Andere verharrten an der Seite ihrer Weiber, Schwestern und Töchter.
Corax wandte sich an Albertus. » Sie erflehen deinen Segen für sich und ihre Kirche. Sie warten auf eine Geste, auf irgendein Zeichen. «
» Sag ihnen, ich werde eine Messe in der Ruine ihrer Kirche lesen. Ich werde ihrem Priester die Letzte Ölung und eine christliche Bestattung geben. Doch zuerst will ich jeden Verletzten untersuchen und für sie tun, was in meiner Macht steht. «
Corax übersetzte, und dann geschah etwas, das Aelvin bis an sein Lebensende nicht vergessen sollte. Rundum sanken alle Bewohner des Dorfes, Männer wie Frauen, auf die Knie und beugten die Häupter. Die fünf Gefährten standen in ihrer Mitte wie Heilige.
Aelvin empfand keinen Stolz, nicht einmal Verlegenheit. Nur Grauen. Und ihm war gleich, was die Mädchen über ihn denken mochten: Lautlos brach er in Tränen aus.
*
Zwei Tage und zwei Nächte blieben sie im Dorf. Albertus nahm jede Wunde in Augenschein, aber er konnte nur wenig tun, um die Schmerzen der Männer zu lindern. Nach einer kurzen Beratung mit den übrigen Gefährten verbrauchte er einen Großteil seiner Salben und Tinkturen, hielt aber einen Rest für sie selbst zurück. Im tiefen Schnee war es unmöglich , neue Zutaten zu finden, und so blieb ihm keine Wahl, als nur jene zu verarzten, die seine Hilfe am nötigsten hatten. Zuletzt las er eine Messe für den ermordeten Priester und eine zweite für das Seelenheil jener, die den grausamen Verstümmelungen erlegen waren. Er riet den Menschen, die Kirche vorerst nicht wiederaufzubauen, damit der Zorn der Räuber sie kein zweites Mal
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