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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und jede Gasse der Stadt dicht mit Menschen bevölkert war.
    Libuse dachte, dass alle Bewohner Bagdads ihre Häuse r v erlassen haben mussten, um ein solches Gewimmel zustande zu bringen. Dann aber sah sie die Menschen hinter den Fenstern, auf den geschnitzten Baikonen und sogar auf den flachen Dächern der Gebäude, und da wurde ihr bewusst, dass die Straßen so überfüllt waren, weil niemand mehr in die Häuser passte.
    Sie führte ihren Vater an der Hand, darum bemüht, in dem Gewühl nicht von ihm getrennt zu werden. Corax bewegte sich unsicher nach all den Tagen an Bord. Das Boot, das sie aus den grünen Bergen Kurdistans durch graubraune Wüsten nach Süden getragen hatte, hatte kaum ausreichend Platz geboten, um ein paar Schritte auf und ab zu gehen. Aufgrund der mangelnden Bewegung und der Tatsache, dass Corax das vorüberziehende Ufer nicht sehen konnte, zeigte er immer deutlichere Zeichen von Desorientierung. Auch hatte er beständig mit seiner Angst vor der Dunkelheit zu kämpfen. Er verriet niemandem, vor was genau er sich fürchtete; Libuse aber ahnte, dass es die Geister seiner Erinnerungen waren, die ihn plagten. Nachdem er sein Stillschweigen einmal gebrochen hatte, sprach er häufiger von früher, und es war längst kein Geheimnis mehr, dass sein erster Abschied vom Abendland eine Flucht gewesen war – nicht vor Männern in Eisen, sondern vor den Skrupeln, die ihn verfolgten, vor der Scham, den Selbstvorwürfen. Er hatte für Konrad von Hochstaden getötet, viele Male, und nun schien es, als drängten jene Taten und Ereignisse immer stärker zurück in sein Bewusstsein. Vielleicht sah er manches davon in der Finsternis seiner Blindheit wieder vor sich, und es war sicher kein schöner Anblick.
    *
    Ahmed bin Ja ’ far al-Khallal mochte ein Lügner und Betrüger sein, doch in einem zumindest hatte er ganz offensichtlich di e W ahrheit gesagt: seinem Alter. Er war zweifellos die älteste Kreatur, die Libuse je zu Gesicht bekommen hatte. Kreatur, weil er mit einem Menschen in etwa so viel Ähnlichkeit hatte wie die Strichzeichnung eines Kindes mit einem ausgewachsenen Mann.
    » Nennt mich nicht Ahmed «, sagte er hinter einer Wolke von Opiumrauch, der das Hinterzimmer seines Hauses und gewiss auch jede Pore seine ausgedorrten Leibes erfüllte.
    » Ahmed hieß mein Vater, und ich habe ihn gehasst. Ahmed hießen auch mein Großvater und dessen Vater und Großvater, und sie alle waren lächerlich ehrliche Männer, die es im Leben zu nichts gebracht haben außer zu einem frühen Tod. « Er atmete tief ein, dann noch langsamer wieder aus.
    » Ich bin Ja ’ far, und es ist gut, dass Corax euch zu mir geführt hat. Ja ’ far ist Bagdad, und Bagdad ist Ja ’ far. « Er betonte das so gelangweilt, als hätte er diesen Satz bereits tausende Male zuvor gesagt, ohne jeden Enthusiasmus.
    Es hatte keine herzliche Begrüßung zwischen Ja ’ far und Corax gegeben, nicht einmal einen Handschlag. Nur ein » Sei gegrüßt « und » Ich wusste, dass du eines Tages zurückkehren würdest «. Auch die Blindheit des Ritters schien dem alten Mann kein Wort wert zu sein, nicht einmal die Floskel, dass es ihm Leid täte, kam über seine blutleeren Lippen. Libuse verachtete ihn vom ersten Augenblick an.
    » Wie hat er das gemeint? «, flüsterte Aelvin ihr zu, nachdem sie im Schneidersitz rund um ein niedriges Feuerbecken in der Mitte der Kammer Platz genommen hatten, auf Teppichbergen, die so hoch waren wie Schemel. » Wieso wusste er, dass dein Vater zurück nach Bagdad kommt? «
    Sie kam nicht zu einer Erwiderung, denn Ja ’ far antwortete selbst, so als hätte Aelvin die Worte in sein Ohr gewispert.
    » Corax ist ein Mann, der zu seinen Schwüren steht «, sagte der Alte. » Und er hat sich geschworen, dass er den Wesir tötet. Nur deshalb ist er hier. «
    Aelvin wollte impulsiv widersprechen, doch Libuse berührte ihn vorsichtig an der Hand. Ja ’ far sagte die Wahrheit. Corax war nicht hier wegen der Lumina, oder weil er Albertus einen Gefallen schuldete. Nicht einmal der Verlust seines Augenlichts konnte ihn davon abhalten, Abu Tahir al-Munadi den Tod zu bringen – oder bei dem Versuch ums Leben zu kommen. Es tat Libuse weh, so viel Hass im Herzen ihres Vaters zu entdecken. So viel Verbitterung und Leid.
    Noch größer aber war der Schmerz, den die Gewissheit brachte, dass er nur scheitern konnte. Corax war ein Krüppel, ob er es wahrhaben wollte oder nicht. Er würde niemandem mehr mit dem Schwert gegenübertreten

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