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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tageslicht wie eine Lanze ins Dunkel stach. Erneut traf ihn etwas, jetzt wieder von der anderen Seite, und er begriff, dass die gesamte linke Wand sich schüttelte und aufbäumte wie ein Wildpferd.
    Der Sturm wurde übertönt vom Bersten der Säulenbögen. Albertus schrie etwas. Favola glitt hinaus ins Licht, wirbelte herum, ihre Hände scho ssen auf Aelvin zu, packten ihn an Mantel und Kutte und zerrten an ihm. Mit einem Aufschrei landete er auf verschneiten Gesteinstrümmern, stieß sich alle Knochen gleichzeitig irgendwo an, war taub vor Schmerz und Trauer um Odo und fuhr trotzdem irgendwie herum zum Schlund des Aquädukts, der nicht länger dunkel war.
    Er sah Albertus auf sich zuschnellen, sah, wie sich hinter dem Magister das Licht durch den Tunnel heranfraß, erst verästelt, dann als Flut aus grauer Helligkeit. Das Aquädukt löste sich in seine Bestandteile auf, mit einem Kreischen wie von einem Urzeittier, und inmitten des Chaos aus Schneewinden und prasselnden Tonziegeln glaubte Aelvin Gestalten zu erkennen, mit wirbelnden Armen und Beinen, dunklen, struppigen Fellmänteln und blitzendem Eisen, die innerhalb eines Herzschlags Teil der Trümmerfontänen wurden und kreischend darunter begraben wurden.
    Eine Wolke aus Staub und Eis und Steinsplittern stieg aus der Schlucht auf wie eine hochgereckte Faust, eine hallende Woge aus Lärm rollte die Kluft entlang und verebbte irgendwo in den Winterwäldern.
    Zu dritt lagen sie nebeneinander im Schnee, Aelvin auf dem Bauch, Favola halb über ihm, Albertus auf der anderen Seite, schon jetzt auf einen Arm gestützt, als wollte er sich gleich wieder hochstemmen und weiterlaufen.
    Unmöglich, dass sie noch lebten. Dass sie noch lebten und Odo tot war, sein Leichnam irgendwo dort unten verschüttet, gemeinsam mit weiß Gott wie vielen ihrer Feinde, vielleicht einem, vielleicht allen.
    Das Schneetreiben fegte durch die neue Leere zwischen den Felsklippen, trieb von Ost nach West an ihnen vorüber, als wäre nichts geschehen; wenn das Wetter sich nicht änderte, würden die Trümmer des Aquädukts und die Toten innerhalb einer Stunde unter tiefem, samtweichem Weiß begraben sein, verborgen für den Rest des Winters.
    Tränen gefroren in Aelvins Augenwinkeln und auf seinen Wangen. Er rieb sie fort, sah seine zerschundenen Fingerkuppen und blickte sich dann nach Favola um, die ihn aus weiten Augen anstarrte, nur ihn, als gäbe es sonst nichts auf der Welt, das anzuschauen sich lohnte.
    Albertus erhob sich, erst auf alle viere, dann schwanken d a uf die Füße. Er half Favola hoch, die nur widerwillig diesen fragenden, unendlich verwirrten Blickkontakt mit Aelvin löste, ehe ihr offenbar ein Gedanke kam und sie mit hektischen Bewegungen ihr Bündel löste, den Luminaschrein hervorzog und ihn mit der Angst einer Mutter um ihr Kind von oben bis unten musterte. Das feinmaschige Gitternetz hatte das Glas vor Schaden bewahrt. Ungläubig sah Aelvin das vermaledeite Kraut an. Nicht einmal die Erde, in der die Pflanze steckte, war durcheinander geworfen worden, so als wäre sie am Boden des Luminaschreins versteinert.
    Er riss sich vom absurden Anblick der Pflanze und ihrer Hüterin los und schaute abermals hinaus über den Abgrund. Eine einzelne Säule stand in der Mitte der Kluft wie ein aufragender Finger aus Stein; eine zweite war zur Hälfte erhalten geblieben. Alle übrigen Bögen waren in der Tiefe verschwunden, hatten sich in Tausende und Abertausende von Ziegeln aufgelöst und sich am Grund der Schlucht zu einem Damm über dem eingeschneiten Bachbett aufgetürmt.
    Für die Dauer eines Atemzuges rissen die Vorhänge aus Schnee über der Klamm auf und gewährten einen milchigen Blick zur anderen Seite. Aelvin schien es, als stünde dort eine einzelne Gestalt und starrte zu ihnen herüber, aber er konnte nicht sicher sein, denn sogleich schloss sich das Schneetreiben wieder und verbarg die Felsen und das Kloster dahinter wie eine Mauer aus Eis.
    Albertus machte wie betäubt einen Schritt nach vorn, und Aelvin war sicher, dass auch er den einsamen Mann dort drüben gesehen haben musste, ihn vielleicht sogar erkannt hatte. Dann aber wandte er sich Favola zu, die eben den Schrein mit zitternden Händen in ihrem Bündel verschwinden ließ.
    » Geht es dir gut? «, fragte der Magister besorgt.
    Ihre Augen verengten sich, und in ihren Zügen war mit einem Mal eine Wildheit, die Aelvin ihr nicht zugetraut hatte.
    » Nein, mir geht es nicht gut! Dort draußen sind gerade Menschen

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