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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Falten und Grate; ein schroffes, feindseliges Gebirge.
    Sinaida wusste, dass Kasim sie insgeheim studierte – ihr Verhalten, ihre Sprache, alles an ihr –, und dass er glaubte, sie gut zu kennen. Doch falls er wirklich der Ansicht war, sie sei nur stehen geblieben, um nach dem langen Aufstieg Atem zu holen, durchschaute er sie nicht halb so gut, wie er es vielleicht wünschte.
    Tatsächlich registrierte sie jedes Detail, jede Kluft, jeden Schlagschatten der Felsen. Obwohl sie Kasim weitgehend vertraute – vermutlich als Einzige im mongolischen Heerlager –, war er nichtsdestotrotz ein Verräter. Die Festung Alamut, sein einstiges Zuhause, lag nur wenige Steinwürfe von hier entfernt, und wer konnte schon mit Gewissheit sagen, ob ihn die Nähe zu den Seinen nicht dazu brachte, abermals die Seiten zu wechseln.
    Unsinn, sagte sie sich. Genau wie die Mongolen kannten auch die Nizaris keine Gnade mit Verrätern. Sinaida wusste, was mit einem Überläufer aus ihren eigenen Reihen geschehen würde, und es gab nicht den geringsten Zweifel, dass der Führer der Nizaris mit seinen Leuten anders verfuhr. Zumindest darin unterschied sich Khur Shah, der Herr von Alamut und Oberhaupt der Nizarisekte, nicht von seinem Erzfeind Hulagu, dem Il-Khan der mongolischen Horde.
    Kasim war stehen geblieben und wirkte sehr schmal un d k lein vor dem beeindruckenden Panorama des Gebirgsmassivs. Obwohl er nicht mehr die sandbraune Kleidung der Nizaris trug, sondern die farbige Tracht, die er von den Mongolen nach seiner Gefangennahme erhalten hatte, besaß er noch immer die beeindruckende Fähigkeit, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Da war etwas in seiner Haltung, das verriet, dass er in diesen Felsen aufgewachsen war: Er beherrschte die Kunst, vollkommen eins mit den Bergen zu werden.
    Als er Hulagus Männern vor über einem Jahr in die Hände gefallen war, hatte Kasim behauptet, er sei sechsundvierzig Jahre alt, ein Bote, den der Herrscher der Festung Alamut mit Durchhalteparolen zu einer der kleineren Burgen im Norden der Elburzberge ausgesandt hatte. Diese aber war gerade erst von den Mongolen geschleift worden, und so wäre er wohl auf der Stelle von den Kriegern der Horde erschlagen worden, hätte er sich nicht – als Erster seines Volkes – bereit erklärt, seine Leute zu verraten und den Eindringlingen aus dem Osten als Schlüssel zu den Geheimnissen der Nizarisekte zu dienen.
    Sinaida glaubte nicht, dass er wirklich schon sechsundvierzig Sommer gesehen hatte. Auch bezweifelte sie, dass er tatsächlich derart hoch in der Hierarchie der Nizaris stand, wie er es Hulagu und dem Rat der Unterführer weisgemacht hatte. Zudem hielt sich sein Nutzen angesichts des Felsens, auf dem Alamut nahezu uneinnehmbar thronte, in Grenzen. Es gebe keine geheimen Wege in die Burg, hatte er wieder und wieder beteuert, und doch könne er die Mongolen die Kriegsführung und die Kampfkunst der Nizaris lehren.
    Hulagu und seine Stammesfürsten waren viel zu ungeduldig, um sich mit derlei zu befassen. Vermutlich wäre Kasim längst hingerichtet oder zum Vergnügen der Krieger zu Tode gefoltert worden, hätte sich Sinaida nicht für ihn eingesetzt. Ihr eigenes Wort galt nicht viel, umso mehr dafür das ihrer älteren Schwester Doquz. Als Ehefrau des Il-Khans hatte si e d arauf bestanden, dass Kasims Leben verschont und er ihrer Schwester Sinaida als Lehrmeister zugeteilt werde. Hulagu hatte Bedenken gehabt, schließlich waren die Nizaris kaltblütige Meuchelmörder, doch er hatte nachgegeben. Schließlich war Sinaida Doquz ’ Schwester, nicht die seine, und wenn sein Weib der Meinung war, dem Mädchen sei mit einer solchen Giftnatter als Haustier gedient, nun, dann sollte es eben so sein.
    Seitdem war der Verräter Kasim der Sklave Sinaidas.
    Sie blickte noch einmal über das Labyrinth der Schluchten und Felszacken, ehe sie Kasim bergan folgte. Von dort oben aus, das hatte er versprochen, würden sie den bestmöglichen Ausblick über das Lager der Großen Horde haben. Außerdem würden sie die Festung der Nizaris und das dahinter liegende Massiv des Berges Haudegan sehen können.
    Seit die Horde mit ihren dreihunderttausend Kämpfern über Amaligh und Samarkand in den Elburzbergen eingefallen war, waren Dutzende Festungen der Nizaris unterworfen worden, zahllose Bewohner versklavt, Zehntausende getötet. Allein Alamut hielt den wilden Kriegern aus dem Osten stand.
    Alamut die Teuflische. Herz des Nizarikults und Stammsitz seines Führers Khur Shah.

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