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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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breit und zugefroren; es hätte wohl eine passable Straße abgegeben, wäre es nicht voller Felsen gewesen, die jeden Wanderer auf dem Eis zu einem zermürbenden Zickzack zwangen. So zogen die Gefährten es vor, den Uferweg zu benutzen, der zwar schmaler und hier und da unter Schneewehen begraben war, alles in allem aber ein zügigeres Vorwärtskommen ermöglichte.
    » Wann rasten wir? «, fragte Libuse. Sie fragte nicht wegen der beissenden Stiche in ihrem Unterleib, nicht wegen dem wilden Pochen hinter ihrer Stirn. Sie sorgte sich um Corax, der seit Stunden kein Wort gesprochen hatte. Noch immer ging sie eng neben ihm, um ihn zu stützen. Doch seine Hand auf ihrer Schulter besaß kaum Gewicht – er schonte sie und schleppte sich lieber aus eigener Kraft durch den Schnee. Längst hatte sie es aufgegeben, ihn eines Besseren belehren zu wollen. Halb blind oder nicht, er war immer noch ihr Vater, und zumindest seine Sturheit war ungebrochen. Sein Herz war das alte, und das machte ihr Mut.
    » Es gibt einen Unterstand, noch ein, zwei Stunden von hier «, sagte Albertus, der an der Spitze der Gruppe lief. Der Weg war gerade breit genug, dass sie zu zweit nebeneinande r g ehen konnten, doch der Magister führte sie allein an, gefolgt von Aelvin und Favola. Libuse verfluchte den unbeholfenen Novizen mehr als einmal, wenn er wieder über den Saum seiner Kutte stolperte; sie fürchtete, wenn Aelvin hinfiel, würde ihr Vater, der hinter ihm ging, ebenfalls stürzen.
    » Was ist mit einem Gasthaus? «, fragte sie.
    » Frühestens morgen Abend. «
    Stumm schimpfte sie auf Gott und die ganze Welt. » Wie kommt es, dass Ihr Euch so gut in dieser Gegend auskennt? «
    » Lange Jahre der Wanderschaft «, entgegnete der Magister wortkarg.
    Aelvin drehte sich im Gehen zu ihr um. Im Dämmerlicht sah sie, dass seine Lippen von der Kälte blau geworden waren. Sie würden alle erfrieren, wenn sie sich nicht bald irgendwo aufwärmen konnten.
    » Er ist Provinzprior der Dominikaner «, erklärte Aelvin über die Schulter.
    » Und das bedeutet? «
    » Dass er seit Jahren von Kloster zu Kloster wandert, um dort nach dem Rechten zu sehen und Messen zu lesen. Er kennt wahrscheinlich mehr Wege durch diese Lande als irgendwer sonst. «
    » Weshalb reitet er nicht? «
    » Die Dominikaner sind ein Bettelorden. Es ist ihnen verboten, Pferde oder Karren zu benutzen. « Aelvin warf einen Blick auf Albertus, der vor ihm grau und schweigend mit dem Zwielicht verschmolz. » Auf einem Wagen reisen sie frühestens, wenn sie tot sind. In ihrem Sarg. «
    Der Magister drehte sich nicht um, aber er hatte jedes Wort gehört. » Auch die Zisterzienser sind den Geboten der Armut verpflichtet, junger Aelvin. Jedenfalls waren sie es, bevor ihre Klöster reich und sie selbst fett und bequem wurden. «
    Libuse wartete darauf, dass Aelvin seinen Orden verteidigte, doch er zuckte nur die Achseln und ging wortlos weiter. Ihr entging keineswegs, dass Favola flüchtig seinen Arm mit ihren behandschuhten Fingern berührte, so als wollte sie sagen: Lass dich nicht von ihm reizen, er meint es nicht so.
    Ohne Vorwarnung füllten sich Libuses Augen mit Tränen. Ihre Erinnerungen, Empfindungen, all der Schmerz waren ihr weit dichter auf den Fersen als irgendwelche menschlichen Verfolger. Sie war froh, dass die meisten der Männer, die ihr Gewalt angetan hatten, tot waren – doch das änderte nichts an dem, was geschehen war. Weit mehr als nur der körperliche Schmerz peinigte Libuse; mehr sogar als das beschämende Gefühl der Erniedrigung durch schmutzige, schwitzende Leiber, die sich zwischen ihre Schenkel pressten: Libuses Qual hatte sich im hintersten Winkel ihrer Seele eingenistet. Die Demütigung zog sich wie feines Wurzelwerk durch jedes ihrer Gefühle, jeden ihrer Gedanken. Nichts v on all dem würde sie je vergessen oder ablegen können.
    Der Hass loderte in ihr und wärmte sie von innen, und er verhinderte, dass sie hier draußen in Eis und Schnee einfach aufgab und starb, wie vielleicht andere es getan hätten.
    Sie war die Tochter des Corax von Wildenburg.
    Und wie er lebte nun auch sie für ihre Rache.
    *
    Was Albertus einen Unterstand genannt hatte, erwies sich als fensterlose Hütte aus Balken und Baumstämmen, von einem Dickicht aus Tannen und Fichten umstanden und halb unter einer Schneelawine begraben, die wohl erst vor kurzem den Hang herabgedonnert war. Diejenigen, die hier zuletzt Schutz gesucht hatten, kannten die ungeschriebenen Gesetze, die an solchen

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