Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
helfen, das Bündel von ihren Schultern zu lösen. Augenblicke später fischte sie den Luminaschrein hervor und hielt ihn ins Tageslicht. Der Schneefall hatte nachgelassen, aber der Himmel über den Baumkronen war unverändert trüb. Auf dem Glas hinter den Gitterstreben spiegelte sich fahles Grau.
Aelvin ertappte sich dabei, wie er auf ein Wunder hoffte, eine Erscheinung, die der Herkunft der Pflanze gerecht wurde. Doch die Lumina stand nur schmal und fast verkümmert in ihrem Glaskäfig wie ein eingesperrter Vogel.
» Was ist das? « Libuses Kopf war über der Kuppe des Hangs erschienen und blickte zu Favola. » Woher hast du das? « Sie schlitterte die Böschung herab, kam neben der Novizin zum Stehen und streckte beide Hände nach dem Schrein aus. Albertus öffnete schon den Mund, um sie davon abzuhalten. Doch Favola schüttelte kaum merklich den Kopf in seine Richtung und ließ Libuse gewähren.
Fast erwartete Aelvin, dass Libuses Berührung auch die Lumina zum Glühen bringen würde, genau wie die Eichenbäume, aber nichts dergleichen geschah. Trotzdem verzogen sich Libuses geschundene Züge zur Andeutung eines Lächelns, erst flackernd wie eine Kerzenflamme, dann immer deutlicher. Sie brachte ihr Gesicht ganz nah an das dünne Gitter des Schreins und blickte wie gebannt hindurch.
» Sie ist wunderschön «, flüsterte sie.
Allmählich kam es Aelvin vor, als wäre er der Einzige, dem die Lumina nicht wie das herrlichste Gewächs unter Gottes Gnaden erschien. Zögernd, weil er immer noch Respekt vor Libuses Zorn hatte, trat er neben die beiden Mädchen und sah ins Innere des Schreins. Nichts hatte sich verändert. Dieselbe Pflanze. Dieselben dünnen, kränkelnden Blätter.
» Sie braucht mehr Licht «, sagte Libuse. Ihre Unterlippe war aufgesprungen und schorfig.
Favola nickte. » Es ist nicht gut für sie, nur im Rucksack getragen zu werden. Wann immer ich kann, lasse ich Tageslicht an sie heran. «
Zum ersten Mal sah Libuse Favola offen an. Es war, als nähme sie das andere Mädchen erst jetzt wirklich wahr. » Sie stammt nicht von hier. Ich habe so eine Pflanze noch nie gesehen. «
Aelvin dachte, dass auf dem Misthaufen im Kloster Unkräuter wuchsen, die verblüffende Ähnlichkeit mit der Lumina besaßen. Aber natürlich behielt er das für sich.
Albertus trat mit einem ungeduldigen Schnaufen neben die Mädchen. » Sie stammt von weit her, und genau dorthin werden wir sie zurückbringen. «
» Warum? «
» Weil das der Ort ist, an den sie gehört «, gab er mürrisch zurück. » Pack sie wieder ein, Favola. Wir müssen aufbrechen. «
Sie tat, was er verlangte – vorsichtig, um ihre Schulter nicht zu belasten –, während Libuse sie aufmerksam beobachtete.
» Libuse? « Aelvin räusperte sich. » Ich … ich wollte dich vorhin nicht erschrecken … «, sagte er.
» Fass mich nie wieder an «, sagte sie, ohne den Blick von dem Bündel zu nehmen. Aelvin zuckte zusammen unter der Kälte in ihrer Stimme, aber er erwiderte nichts mehr.
Favola verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als sie sich di e L umina mit Albertus ’ Hilfe wieder auf den Rücken schnürte. Eigentlich war es Wahnsinn, fand Aelvin, sie mit solch einer Verletzung einen Rucksack tragen zu lassen. Aber Albertus ließ nicht zu, dass irgendwer anderes die Lumina transportierte. Auch Favola schien überzeugt zu sein von der Notwendigkeit.
» Ich bin ihre Hüterin «, hatte Favola gesagt. Daran glaubte sie bedingungslos. Aelvin stand es nicht zu, ihre Überzeugungen infrage zu stellen.
Libuse schien seinen Blick misszuverstehen. » Fass mich nicht an «, sagte sie noch einmal, » und starr mich nicht an. «
» Ich hab doch gar nicht – «
Libuse ließ ihn stehen.
» Wir müssen gehen «, sagte Albertus, während Libuse ihrem Vater auf die Beine half. » Wir brauchen ein Dach über dem Kopf und ein warmes Feuer, während wir entscheiden, was unser nächster Schritt sein wird. «
» Wir könnten zurück zum Kloster gehen «, schlug Aelvin vor. » Falls wirklich nur einer der Männer überlebt hat, droht uns dort gewiss keine Gefahr mehr. Bestimmt ist er längst fort. «
» Und falls nicht? Oder wenn doch noch mehr von ihnen übrig sind? « Albertus starrte Aelvin finster an. » Dann sind sie längst auf dem Weg hierher, und wir würden ihnen geradewegs in die Arme laufen. Und selbst wenn nur noch einer am Leben ist – und ich habe keinen Zweifel, dass dies Gabriel selbst ist, denn er war sicher nicht so dumm, mit in dieses
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