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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nicht? «
    » Er ist meine rechte Hand. «
    » Das ist keine Antwort. «
    Khur Shah hielt inne. Sie hatten den höchsten Punkt der letzten Gipfelkette erreicht. Das schroffe Labyrinth der Elburzberge lag jetzt in ihrem Rücken, durchzogen von bodenlosen Schluchten und Tälern in ewigem Schatten.
    Vor ihnen erstreckte sich unter einem eisblauen Abendhimmel die Kaspische See. Der Horizont des gewaltigen Inlandmeeres verlor sich in verschwommenen Fernen. Es war noch ein weiter Abstieg bis zum Ufer, aber Sinaida glaubte bereits das Rauschen der Brandung zu hören, das Brechen der Wogen am Fels. An den Hängen des Gebirges gab es vereinzelte Baumgruppen, aber nirgends eine Spur menschlicher Besiedlung.
    Khur Shah legte sein Bündel ab und bot Sinaida Wasser aus einer Lederflasche an. Sie trank – nicht so schnell, wie sie eigentlich wollte – und reichte das Gefäß an ihn zurück. Er verkorkte die Öffnung, ohne selbst einen einzigen Schluck zu nehmen. Wollte er, dass sie sich ihm unterlegen fühlte? Nein, dachte sie, das passte nicht zu ihm. Selbst nach der Kapitulation war er unbestritten der Alte vom Berge; er hatte es nicht nötig, sie zu beeindrucken. Sie mochte ihn, und das war weit mehr, als sie bei ihrer Einwilligung zu dieser Hochzeit für möglich gehalten hatte.
    » Was willst du über Shadhan wissen? «, fragte er. Es war ihm sichtlich unangenehm, über seinen Berater zu sprechen. Und doch ließ er sich ihr zuliebe darauf ein.
    » Wer ist er? Wo kommt er her? « Sie setzte sich auf das umgestürzte Gerippe eines abgestorbenen Baumes, das wi e e in bizarrer Hochsitz auf dem Bergkamm thronte. Von hier aus konnte sie das wabernde Blau in der Tiefe überschauen und zugleich Khur Shah ansehen.
    » Er stammt aus dem Osten, aus Quhistan «, sagte Khur Shah. » Er versteht sich auf Sternenkunde und Sterndeutung, aber vor allem ist er ein Kenner der alten Schriften meines Glaubens – ich mag das Oberhaupt der Nizaris sein, aber nicht einmal ich weiß alles über meine Vorväter. Shadhan hat sich lange mit der Auferstehungslehre beschäftigt und selbst viele Texte darüber verfasst. Er hat Traktate geschrieben, Chroniken, Pamphlete. Er weiß alles über die Gesetzgebung unserer Ahnen, über jahrhundertealte Beschlüsse und so weiter. Stell ihm irgendeine Frage, über die Geschichte der Nizaris, das Werk der Imame, aber auch über die Gestirne, die Zahlenkunde oder die Religionen anderer Völker – Shadhan wird eine Antwort darauf wissen. «
    » Du schätzt ihn, aber du liebst ihn nicht. «
    » Ein Mann wie er braucht keine Liebe. « Khur Shah suchte nach den richtigen Worten. » Er gibt einem keinen Anlass, ihn zu lieben. Er ist nur Verstand, nur Wissen, nur Tradition. Ich bin dankbar, dass er da ist – jedenfalls meistens –, sonst hätte ich ihn nicht aus den Tiefen von Alamuts Bibliothek ans Licht geholt, um mir beizustehen. Es ist nicht immer leicht, über ein Volk zu herrschen und zugleich den Gesetzen einer uralten Tradition zu folgen. «
    Sie fand, dass er traurig aussah, als er diese letzten Worte sprach. Er war ein Mann, der in seinem Inneren zutiefst zerrissen war zwischen Pflichterfüllung und seinem eigenen Streben nach Höherem. Er hatte sich seine Rolle nicht ausgesucht.
    » Du hast deinen eigenen Vater getötet «, sagte sie unvermittelt.
    Khur Shah nickte bedrückt. » Kasim hat mir erzählt, dass du mit ihm darüber gesprochen hast. Was willst du hören? Rechtfertigungen? «
    » Nein «, sagte sie. » Ich glaube dir, dass es richtig war, was du getan hast. «
    » Das habe ich nie behauptet. «
    Sie musterte ihn. Er trug das lange Haar jetzt offen, es wirbelte in den kalten Gebirgswinden. » Wie meinst du das? «
    » Was ich getan habe, habe ich für die Nizaris getan. Für sie war es das Richtige. Aber für mich? «
    » Dann wolltest du eigentlich nie der Alte vom Berge werden? «, fragte sie.
    » Niemand, der bei Verstand ist, bürdet sich eine solche Last auf. Und niemand kann daran Freude haben. «
    Sie lächelte, um ihm die düstere Stimmung zu nehmen.
    » Dann habe ich wohl einen Verrückten geheiratet. «
    Er begegnete ihrem Blick mit spöttischem Funkeln. » Wer sonst hätte um die Hand einer Frau angehalten, die er nie zuvor gesehen hat? «
    Innerhalb der mongolischen Fürstenhäuser war das nichts Ungewöhnliches, in seiner Kultur aber schien dieses Vorgehen keineswegs üblich zu sein. Das überraschte sie. Es rückte das, was seit der vergangenen Nacht zwischen ihnen geschah, in ein

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