Das Camp
eine Mail geschickt. Nein, konnte er ja gar nicht. Judiths E-Mail-Adresse hatte nicht auf dem Umschlag, sondern auf dem Briefrand gestanden. Den Brief hatte Haufeld aber nie zu sehen bekommen. Den hatte Luk so gründlich zerkaut, dass ihn keiner mehr lesen konnte.
Es tat ihm wirklich leid für Benjamin. Aber aus dieser Richtung war nicht mehr ernsthaft mit Hilfe zu rechnen. Vielleicht fiel ihm ja irgendwas anderes ein.
Zum Glück schien das nicht mehr ganz so dringend zu sein. Benjamin war schneller und zäher geworden, seit er endlich aufgestiegen war und seine Stiefel bekommen hatte. Er wirkte auch nicht mehr so verloren und hoffnungslos.
Da Harley endlich Ruhe gab, konnte Luk sich jetzt ganz auf seinen erneuten Aufstieg konzentrieren. Nicht ein einziges Mal ließ er sich dazu hinreißen, gegen das Sprechverbot zu verstoßen. Mit dosierter Kraft klotzte er ran, um sein tägliches Arbeitspensum zu erfüllen.
Trotzdem dauerte es fast drei Wochen, bis er eines Morgens beim Appell nach vorn gerufen wurde und einen frisch
gewaschenen orangefarbenen Overall und zwei ramponierte, angeschimmelte Treter in Empfang nehmen durfte.
Endlich wieder Stufe zwei! Luk nahm sich vor, in seinem Eifer nicht nachzulassen. Wenn es irgendwie ging, wollte er die Zeit, die er durch den heimlichen Brief an Judith verloren hatte, wieder aufholen und möglichst noch ein paar Stufen aufsteigen.
Einmal meldete er einen großkotzigen rothaarigen Neuankömmling, der beim Waldlauf seinen Nachbarn mit Fragen genervt und damit gegen das Sprechverbot verstoßen hatte, beim Zugführer.
»Sehr gut, Luk«, sagte Pannewitz. »Und wer war das, mit dem der Kerl geredet hat?«
Luk zögerte. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Aber wer A sagt, muss auch B sagen, dachte er. Ihn hatten schließlich auch schon genug Typen verpfiffen.
»Sascha«, sagte er.
»Sehr gut«, wiederholte der Zugführer. Er zückte sein Notizbuch, schrieb die beiden Namen auf und machte ein Zeichen dahinter. »Weiter so, Luk«, sagte er.
Eine Woche später rückte Luk wieder auf Stufe drei auf, viel früher, als er gehofft hatte.
Na also, dachte er. Geht doch.
34
Ein paar Tage danach tauchte Oleg morgens beim Waldlauf plötzlich neben Luk auf.
»Schon gehört? Harley kommt raus.«
Das Gerücht von Harleys bevorstehender Entlassung war Thema im Camp. Luk hörte es bis zum Mittagessen von fünf verschiedenen Leuten. Aber keiner wusste, wann genau Harley entlassen werden sollte.
»Überwoche«, sagte Wladimir.
Luk kapierte nicht gleich, und Wladimir setzte ihm umständlich auseinander, dass es noch 14 Tage dauere, bis Harley das Camp verlassen werde.
Beim Mittagessen setzte Luk sich ein paar Meter abseits von den anderen auf eine umgedrehte Schubkarre. Er hatte immer noch Zweifel an Harleys bevorstehender Entlassung. Warum sollten die ihn ausgerechnet jetzt rauslassen, mitten in der Bauphase? Die hatten doch auch so schon zu wenig Leute, die eine Maurerkelle von einem Spaten unterscheiden konnten. Aber vielleicht gab’s da Vorschriften. Vielleicht hatten die gar keine andere Wahl.
Luk merkte, dass er sich zu entspannen begann. Ganz vorsichtig, nur mal zur Probe, malte er sich aus, wie sich das Leben im Camp für ihn entwickeln würde, wenn Harley weg war. Eins stand jedenfalls fest: Dann würde er die nächsten Stufen noch schneller schaffen. Und Benni würde er mitziehen. Irgendwie würde er das schon hinbekommen.
Sascha setzte sich neben ihn auf die Schubkarre. Missmutig rührte er in der grünbraunen Wassersuppe in seiner Plastikschüssel. »Die reinste Plörre ist das! Na ja, wenn man fast als Letzter kommt.«
»Schon wieder ein Neuer bei euch?«
Sascha zuckte die Achseln. »Den kriegen wir schon hin.« Dann erzählte er, dass er Pannewitz habe sagen hören, Harley würde sogar schon diese Woche entlassen. »In drei Tagen, glaube ich.«
»Falsch«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihnen.
Luk fuhr herum. Harley hatte sich unbemerkt genähert. Er grinste freundlich. Trotzdem rückte Sascha eilig von Luk weg, als fürchte er Ärger.
Harley beachtete Sascha überhaupt nicht. Er sah nur Luk an. »Morgen«, sagte er. »Morgen ist hier Schluss für mich.«
»Glückwunsch«, sagte Luk.
Genau wie Sascha spürte er, dass sich irgendwas anbahnte. Dass der Ex-Chief was vorhatte.
»Keine Ahnung, warum die das machen. Ich dachte, ich hab noch Zeit. Dass die mich erst rauslassen, wenn der Rohbau fertig ist.«
Zeit wofür, überlegte Luk. Aber er ließ den
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