Das Camp
Gedanken gleich wieder fallen. Harley war Geschichte. Morgen verschwand er aus seinem Leben. Für immer und ewig, da war er sicher.
Harley grinste immer noch freundlich auf ihn herab. »Eigentlich schade«, sagte er. »Ich wollte dir noch mal gründlich die Fresse polieren, bevor ich hier abdanke.«
»Klar«, sagte Luk.
Er hielt das Ganze für Harleys große Abschiedsnummer. Der Ex-Chief, der noch mal so richtig zeigte, wer hier am längeren Hebel saß.
Aber dann sah er, wie Harley die rechte Schulter zurücknahm. Der Schlag kam so plötzlich, dass Luk nicht mehr ausweichen konnte. Harleys Faust traf ihn mitten ins Gesicht.
Luk spürte, dass seine Augenbraue platzte. Etwas Warmes lief ihm ins Auge. Blut musste das sein. Während Luk noch ungläubig die Wunde betastete, tänzelte der Ex-Chief zurück. Mit voller Wucht trat er Luk zwischen die Beine.
Luk kippte nach vorn. Er rang nach Atem. Als er im Gras lag, traf ihn der nächste Tritt. Immer wieder trat Harley zu. Sehr cool und systematisch machte er das, als habe er es
schon seit Tagen geplant. Zuerst in die Rippen. Dann gegen den Kopf. Immer genau dorthin, wo Luk sich gerade nicht mit den Armen schützte.
Luk war froh, als er plötzlich die Stimme des Zugführers hörte.
»Aus!«, schrie Pannewitz. Als ob er es mit einem bissigen Hund zu tun hatte. »Aufhören, Gruppenführer!«
Harley trat weiter auf Luk ein. Er schien jede Kontrolle über sich verloren zu haben. Trotzdem wurde Luk das Gefühl nicht los, dass Harley ganz genau wusste, was er tat. Dass er einen ganz bestimmten Zweck verfolgte.
»Schluss jetzt!«, brüllte Pannewitz.
Luk spürte noch einen Tritt in die Rippen, aber sehr viel schwächer jetzt. Drei oder vier Leute stürzten herbei und packten Harley.
Pannewitz baute sich breitbeinig vor Harley auf, die Hände in die Seiten gestemmt. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen. Er war ernsthaft verärgert.
»Das war’s, Gruppenführer. Sie werden zurückgestuft. Ihre Entlassung morgen können Sie vergessen.«
Pannewitz machte kehrt und stapfte davon. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich noch mal um. Er war immer noch wütend.
»Und außerdem«, sagte er, »werden Sie nächste Woche beim Scheißefahren helfen! Verstanden?«
Harley machte sich los und nahm Haltung an. Er war jetzt wieder ganz der willige Untergebene. »Jawohl, Herr Zugführer.«
Scheißefahren galt als eine der Höchststrafen im Camp. Alle zwei bis drei Monate, wenn die poolgroße Klärgrube hinter den Garagen wieder mal voll war, forderte die Verwaltung den grauen Tankwagen der Entsorgungsfirma an.
Einer aus dem Lager musste dem Fahrer beim Abpumpen helfen und ganz am Schluss, wenn die Pumpe blubbernd und gurgelnd nur noch Reste erwischte, in das Bassin hinabsteigen, nur mit einer dreckigen Gasmaske ausgerüstet und nackt bis auf die Unterhose. So musste er den schmierigen Boden und die stinkenden Wände nach Rissen und Löchern absuchen und sie auch gleich abdichten mit einer zähen, klebrigen Masse.
Benni war mal dazu verdonnert worden. Der würgende Geruch hatte sich so nachhaltig in seinen Haaren und seiner Haut festgekrallt, dass ihm die anderen, auch nach dem fünften Duschen, noch tagelang aus dem Weg gegangen waren.
Wie gesagt, eine der Höchststrafen im Camp.
Aber Harley wirkte alles andere als geschockt. Er wartete gerade noch ab, bis Pannewitz ihm den Rücken zuwandte. Dann breitete sich ein fettes Grinsen auf seinem Gesicht aus.
Er hatte erreicht, was er wollte.
Auch wenn das Scheißefahren und die Klärgrube bestimmt nicht sein Hauptziel gewesen waren.
35
Am Morgen darauf ließ Luk sich beim Waldlauf so weit zurückfallen, dass er schließlich von Benni eingeholt wurde.
»Alles okay?«, fragte Benjamin. Er keuchte so heftig, dass Luk ihn zuerst gar nicht verstand. Benni war immer noch ein mieser Läufer. Nur mit größter Mühe konnte er überhaupt mithalten. Wenn nicht ständig neue Leute ins Camp eingeliefert worden wären, die auf ihren bloßen Füßen dem Pulk der
Altgedienten hinterherhumpelten, wäre er immer noch als Letzter auf dem Appellplatz eingetroffen.
Luk beruhigte Benni. »Alles im grünen Bereich. Aber pass du ein bisschen auf, ja?«
Benni blieb vornübergebeugt mitten auf dem Weg stehen, die Hände auf den Knien. Er hatte ein zu hohes Tempo vorgelegt und versuchte, zu Atem zu kommen.
»Wegen Harley«, sagte Luk. »Der hat was vor.«
Benni richtete sich auf. Mit großen Augen sah er Luk an. »Aber der hat gar
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