Das Cassandra-Projekt: Roman (German Edition)
Führung. Walker ist aufgestanden und gegangen.
Am Abend hat er sich in seinem Tagebuch dazu geäußert: ›Das war’s. Mir hat es gereicht. Sitze da rum, obwohl ich eigentlich irgendwo draußen sein sollte, um das größte Ereignis in meinem Leben zu feiern. In jedermanns Leben.‹ Dann folgt dieser Satz: ›Schwer zu glauben …‹.«
»Wo war das Tagebuch die ganze Zeit?«, fragte Jerry und bemühte sich um einen skeptischen Tonfall.
»Jane sagte, sie habe gar nicht gewusst, dass er ein Tagebuch geführt hat. Nach seinem Tod hat sie es gefunden. Sie hat kaum einen Blick darauf geworfen. Hat nur bis zu dem Punkt gelesen, wo er davon erzählt, wie er ihre Mutter kennengelernt hat. Die Mutter ist schon seit langer Zeit tot. Aber als diese Myshko-Sache losging, ist sie neugierig geworden und hat es sich genauer angesehen.«
»Wer ist Jane?«
»Jane Alcott. Walkers Tochter. Sein einziges Kind, um genau zu sein.«
»Wer hat das Tagebuch jetzt?«
»Ich.«
Jerry blickte hinaus zu den Starttürmen. »Wie lautet der Eintrag für den 21. April 1969?«
»Es gibt keinen. Wir haben einen Eintrag am 3. April, in dem er seine Gefühle und seine Erwartungen an den Flug festhält. Dann kommt erst am 2. Mai wieder etwas. Drei Tage nach seiner Rückkehr.«
»Am 21. April haben sie den Mond umkreist.«
»Ja, richtig.«
Jerry hatte das Gefühl, sein Magen gefröre zu Eis. »Und was steht in dem Eintrag vom 2. Mai?«
»Nur, wie froh er wäre, dass er wieder bei seiner Familie sei. Und auf festem Boden. So ein Zeug.«
»Was denkt seine Tochter darüber?«
»Sie sagt, die Zeile mit dem Baseballplatz wäre ihr bisher nie aufgefallen. Sagt, sie sei kein Baseballfan.«
»Ich glaube, Amos Bartlett lebt noch«, dachte Jerry laut nach. Bartlett hatte zu Walkers Crew gehört.
»Wir haben ihn angerufen«, gestand Ralph. »Bartlett war der Pilot der Kommandokapsel. Er hat uns gesagt, das müsse ein Irrtum sein. Oder ein Scherz.«
Jerry nickte. Natürlich. Was auch sonst? »Damit ist doch alles klar.«
»Hast du einen Kommentar abzugeben, Jerry?«
»Für mich hört sich das an, als hätte Walker geträumt. Darüber nachgedacht, was hätte sein können. Vielleicht hat er ja auch den Bezug zur Realität verloren. Angefangen, sich die Dinge, die er in sein Tagebuch schreiben wollte, auszudenken.«
»Ist das eine offizielle NASA-Stellungnahme?«
»Nein, Ralph. Momentan enthalten wir uns grundsätzlich jeglichen Kommentars.«
Gleich nach dem Anruf suchte Jerry das Archiv auf. Während eines Zeitraums von über siebzig Stunden, in denen die Kapsel den Mond umkreist hatte, war Bartletts Stimme die einzige, die aus der Kapsel zu hören war. Auf dem Weg zum Mond hatte vorwiegend Walker die Gespräche geführt, ebenso wie auf dem Rückflug. Gelegentlich war auch Lenny Müllen, der LEM-Pilot, zu hören.
Aber beinahe drei Tage lang hatten Walker und Müllen geschwiegen.
Die Myshko-Mitschnitte in Neuauflage.
5
Bucky Blackstone war in New York, als die Neuigkeit publik wurde. Rasch tätigte er drei Anrufe. Einer galt Ralph D’Angelo, die anderen beiden D’Angelos Redakteur und seinem Herausgeber – beides langjährige Bekannte, wenn auch nicht unbedingt Freunde. Als Bucky fertig war, hegte er keinerlei Zweifel daran, dass in dem Tagebuch die Rede von einer Landung war.
Aber das war verrückt! Das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Menschheit, und die NASA verheimlicht es ein halbes Jahrhundert lang? Das ergab keinen Sinn. Selbst wenn die Regierung einen Grund gehabt hatte, die Sache zu vertuschen, wie zum Teufel hatten sie die Mannschaften dazu gebracht, dabei mitzuspielen? In der ganzen westlichen Welt kannte jedes Kind die Namen Neil Armstrong und Buzz Aldrin. Wie also überzeugte man einen Menschen, der vor ihnen auf dem Mond gelandet war, auf diesen Ruhm zu verzichten? Und selbst wenn sie damals zugestimmt hatten, warum hatten Myshko und die anderen zwanzig oder dreißig Jahre lang den Mund gehalten? Oder fünfzig, falls einer von ihnen noch lebte.
Geistesabwesend kratzte Bucky sich am Kinn und starrte stirnrunzelnd ins Nirgendwo. Niemand war vor Armstrong auf dem Mond gelandet. Wäre jemand gelandet, wäre das ein Triumph gewesen, kein Geheimnis. Damals hatten sich die USA ein Rennen mit den Russen geliefert, die ihnen mit Sputnik zuvorgekommen waren. Man war sich nicht sicher gewesen, ob Chruschtschow und die Russen nicht heimlich an einer eigenen Mondlandemission arbeiteten. Hätten wir landen können, dann wären
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