Das Comeback
und wie. Es war der erste formelle Schritt bei internen Ermittlungen und Dienstverfahren.
Als er aufsah, stand vor ihm eine Frau mit einem jungen Mädchen am Schalter. Das Mädchen hatte rot unterlaufene Augen und eine geschwollene Unterlippe, die aussah, als wäre sie das Resultat eines Bisses. Sie sah aufgelöst aus und starrte auf die Wand hinter Bosch, als befände sich dort ein Fenster – nur war keins dort.
Bosch hätte sie von seinem Schreibtisch aus fragen können, wie er ihnen helfen könnte. Aber man mußte nicht Detective sein, um zu wissen, warum sie hier waren. Er stand auf und trat an den Schalter, damit sie vertraulich mit ihm sprechen konnten. Vergewaltigungsopfer deprimierten ihn am tiefsten. Er wußte, er würde es nicht einen einzigen Monat in der Abteilung für Vergewaltigung aushalten. Jedes Opfer, das er je gesehen hatte, hatte so ins Leere gestarrt. Ihr Leben hatte sich geändert, für immer. Sie würden nie wiedererlangen, was sie vorher hatten.
Nachdem er kurz mit Mutter und Tochter gesprochen hatte, fragte Bosch, ob das Mädchen einen Arzt benötigte, und die Mutter sagte nein. Er öffnete die hüfthohe Klappe am Schalter und führte die beiden nach hinten in eins der drei Vernehmungszimmer. Dann ging er zum Tisch für Sexualverbrechen und sprach Mary Cantu an, eine Kollegin, die seit Jahren einen Job machte, den Bosch nicht einen Monat hätte tun können.
»Mary, eine Mutter ist mit ihrer Tochter hier«, sagte Bosch. »Sie sind in Raum Drei. Das Mädchen ist fünfzehn. Es ist gestern abend passiert. Sie war neugierig, was der Dealer an der Ecke machte. Er schnappte sie sich und verkaufte sie mit einem Stück Crack an den nächsten Kunden.«
»Danke, Bosch. Genau das, was mir noch an einem Freitag gefehlt hat. Ich werde sofort hingehen. Hast du gefragt, ob sie ärztliche Hilfe braucht?«
»Sie hat nein gesagt, aber ich glaube, die Antwort ist ja.«
»Okay, ich kümmere mich drum. Danke.«
Als er wieder hinterm Schalter saß, dauerte es ein paar Minuten, bis Bosch seine Gedanken von dem Mädchen lösen konnte, und weitere fünfundvierzig, die Berichte durchzulesen und bei den zuständigen Abteilungen abzuliefern.
Als er fertig war, schaute er nach, was Billets machte. Sie war am Telefon, ein Stoß Akten lag vor ihr auf dem Schreibtisch. Bosch stand auf, ging zum Karteischrank und holte seine Kopie des Mordbuchs heraus. Er hatte beschlossen, daß er in der freien Zeit, die er zwischendurch am Schalter hatte, das Mordbuch durchgehen würde. Die Ermittlungen waren von Anfang an dermaßen schnell abgelaufen, daß er keine Zeit gehabt hatte, die Berichte durchzulesen. Aus Erfahrung wußte er, daß Einzelheiten und Nuancen für die Lösung eines Falls oft entscheidend sein konnten. Er hatte gerade begonnen, die Seiten oberflächlich durchzublättern, als jemand ihn ansprach, dessen Stimme ihm irgendwie bekannt vorkam.
»Ist das das, wofür ich es halte?«
Bosch schaute auf. O’Grady, der FBI-Agent stand am Schalter. Bosch wurde rot vor Verlegenheit, daß er in flagranti mit der Akte ertappt worden war. Seine Abneigung gegen den Agenten wuchs.
»Ja, das ist es, O’Grady. Du solltest schon vor einer halben Stunde hier sein, um es abzuholen.«
»Ich muß mich nicht nach eurer Stechuhr richten. Ich hatte was zu erledigen.«
»Was? Mußtest du einen neuen Zopf für deinen Kumpel Roy besorgen?«
»Gib mir das Ringbuch, Bosch. Und den Rest.«
Bosch war immer noch nicht aufgestanden und machte auch keine Anstalten, es zu tun.
»Wofür willst du das Mordbuch haben, O’Grady? Wir wissen doch alle, daß ihr den Fall zu den Akten legt. Euch interessiert doch nicht, wer Tony Aliso umgebracht hat. Ihr wollt es gar nicht wissen.«
»Red nicht so’n Scheiß. Gib mir die Akte.«
O’Grady griff über den Schalter und tastete nach dem elektronischen Knopf, der die Tür öffnete.
»Nimm bloß deine dreckigen Pfoten weg«, sagte Bosch und stand auf. »Warte hier. Ich werde alles holen.«
Mit dem Ringbuch in der Hand ging Bosch zum Mord-Tisch. Er verdeckte O’Grady die Sicht mit seinem Rücken, legte sein Ringbuch auf den Tisch und nahm den Karton mit dem originalen Mordbuch, den zusätzlichen Berichten sowie den Plastikbeuteln mit Beweismitteln, die Edgar und Rider eingepackt hatten. Er trug ihn nach vorn und knallte ihn vor O’Grady auf den Schalter.
»Du mußt die Annahme bestätigen«, sagte er. »Wir gehen mit Beweismitteln sehr gewissenhaft um und achten darauf, wer es in seiner Obhut
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