Das Dach kommt spaeter
Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, erklärte Baba gestenreich seine Strategie. »Machen wir Keil von Seite und dann mit Seil fest an Benz. Fährst du los, ziehst stramm, und Baum geht schräg in diese Richtung hier.«
Seine Worte waren mir, wie so oft, ein Rätsel. Aber als braver Sohn hatte ich ein nicht zu erschütterndes Grundvertrauen in ihn und seine Pläne. Und hatte er nicht behauptet, in der Türkei schon häufig Bäume gefällt zu haben? Also nickte ich ergeben und beobachtete, wie Baba die Säge anwarf, die nach einigem Spotzen und Röcheln tatsächlich ins Laufen kam, wenn auch mit ohrenbetäubendem Lärm. Mein Erzeuger störte sich nicht daran. Während er anfing, geschickt den Keil aus dem Stamm zu fräsen, stieg ich in den maroden Benz und fuhr ihn holpernd näher an den Ort des Geschehens. Dabei musste ich höllisch aufpassen, nichtversehentlich den immer noch halbblind über das Gelände torkelnden Gerd umzunieten. In knapp drei Metern Entfernung von der Eiche stoppte ich und holte das Seil aus dem Kofferraum, das mein Vater in weiser Voraussicht mitgebracht hatte. Baba hörte auf zu sägen und betrachtete sein Werk mit berechtigtem Stolz: Der Einschnitt sah sauber und ausreichend groß aus.
»Murat, machst du Seil um Ast oben und einmal um Baum. Gerd macht mit andere Ende Knoten um Anhängerkupplung von Auto. Gut?«
»Jau.«
Mit dieser spärlichen Antwort brachte sich Gerd erstmals verbal ein und machte sich mit seinem Ende des Seils an der Anhängerkupplung des Benz zu schaffen. Ich wickelte das Tau an meinem Ende auftragsgemäß einmal um die morsche Eiche und knotete eine Schlaufe, die ich, wie Billy the Kid sein Lasso, um einen Ast schlang und festzurrte. Der Rest des Seils lag nun zwischen Auto und Baum am Boden.
»Jetzt Keil andere Seite, sonst fällt Baum nicht in richtige Richtung …«
Was immer er damit meinte, ich vertraute ihm. Baba warf die Säge an, der Keil flog raus, er machte mir ein Zeichen, ich stieg ins Auto, warf den Motor an und fuhr vor, bis das Seil strammgezogen war. Doch dann war Schluss: Die Räder drehten im vom Regen der letzten Tage aufgeschwemmten Boden durch, ich trat noch einmal kräftig aufs Gas, aber nichts ging mehr. Die Eiche stand wie eine Eins und wankte kein Stück. Wieder trat ich das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Ein markerschütternder Knall, der Benz sprang in einem heftigen Ruck mehrere Meter vor, mein Kopf wurde durch die Schubkraft so nach hinten geschleudert, dass ich einen kurzen Moment das Gefühl hatte, ihn im Fond aufsammeln zu müssen. Gleichzeitig sah ich im Rückspiegel,wie das Seil Richtung Stamm schoss und knapp davor schlaff auf den Boden sackte. Was für ein Reinfall! Ich ließ meinen Ärger am Lenkrad aus, indem ich mehrfach mit voller Wucht draufschlug, und stieg dann aus, um mich mit Baba zu beraten. Der stand allerdings nicht mehr da, wo ich ihn noch vor wenigen Augenblicken gesehen hatte, sondern hatte seine Beine in die Hand genommen und rannte in einem Tempo, das ich ihm in seinem Alter beim besten Willen nicht mehr zugetraut hätte, auf mich zu. Auch Gerd stolperte, den wackligen Helm festhaltend, hilflos in meine Richtung. Es dauerte ein, zwei Sekunden, bis ich den Grund für ihre Flucht erkannte: Die Eiche hatte sich unseren Attacken doch noch ergeben – sich allerdings leider für die falsche Richtung entschieden. Mit Bersten und Splittern begrub der sterbende Koloss wie ein erlegtes Mammut den fragilen hölzernen Sichtschutz meines Nachbarn unter sich. Eine hervorragende Gelegenheit, erste zarte nachbarschaftliche Bande zu knüpfen. Dazu musste ich nicht einmal aktiv werden. Denn noch während der Sichtschutz in seine Einzelteile zerlegt wurde, kam ein muskelbepackter Freistilringer mit blonder Meckifrisur und viel zu eng sitzendem Muscle-Shirt durch den Vorgarten geschossen und brüllte: »Was soll das? Habt ihr Vollidioten sie nicht mehr alle?«
Ich ließ mich auf diesen doch recht aggressiven Tonfall nicht weiter ein und erwiderte betont höflich: »Guten Tag, Herr Schneider«, der Name stand in riesigen schwarzen Lettern neben seiner Haustür, »wenn ich mich kurz vorstellen darf: Murat Topal. Ich bin Ihr neuer Nachbar.«
»Du und deine Rentner-Rambos da, ihr könnt euch gleich euren Bettnachbarn im Krankenhaus Neukölln vorstellen. Randalierern wie euch muss man den Stecker ziehen, bevor ihr die Welt in Schutt und Asche legt.«
Er war, wie man auch an seinem glutroten Schädel erkennenkonnte, etwas
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