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Das Dach kommt spaeter

Das Dach kommt spaeter

Titel: Das Dach kommt spaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Murat Topal
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herausgefischt, mit dem Fön mühsam getrocknet und erleichtert festgestellt hatte, dass alles noch funktionierte, musste ich mich unbedingt ein Weilchen aufs Ohr legen. Ich war so fertig, dass ich erst nach rund sechs Stunden Tiefschlaf wieder aufwachte. Kurz vor halb drei. Verflucht, irgendwie war heute der Wurm drin. Um das Maß vollzumachen, hatte Ann-Marie einen Zettel auf den Küchentisch gelegt:
Muss mit Ayla zum Arzt. Falls Du wegmusst, nimm Levin mit.
    Nun war ich sowieso schon spät dran, aber mit Kindern potenziert sich das Pünktlichkeitsproblem naturgemäß um ein Vielfaches. Irgendwas ist immer: volle Windel eins, volle Windel zwei, heftige Diskussionen über die Kleiderordnungà la »BITTE! Du kriegst einen Schokoriegel, aber ZIEH DIE JACKE AN. ES SIND MINUS DREIZEHN GRAD«, unerwartete Schmollanfälle, tinnitusförderliche Schreiattacken – das Programm ist vielfältig und unendlich ausbaufähig. Andererseits hat man natürlich immer eine gute Ausrede für selbstverschuldetes Zuspätkommen. Das nutzte ich schamlos aus, als ich gegen halb vier mit Levin an der Hand in Britz ankam.
    »Sorry, Herr Kosewitz, aber Sie wissen ja … Kinder!«
    Der Grubenchef blickte mich nur verdrossen an und knurrte: »Hab keene Kinda.«
    Darauf wusste ich nichts Passendes zu sagen, aber das spielte auch keine Rolle. Denn zu meinem Entzücken sah ich, dass die Grube bereits fertig ausgehoben war. Mein Schwiegervater hatte mir bei unseren Vorbesprechungen eingebläut, das Team bei jeder Gelegenheit zu loben. »Lobe, Murat. Immer kräftig lobe. Nur so hältscht du die Motivation hoch!« Leider kam ich nicht dazu, seinen klugen Ratschlag umzusetzen. Als ich nämlich etwas genauer hinsah, beschlich mich das deutliche Gefühl: Hier stimmt was nicht. Und zwar im Größenverhältnis zwischen Bagger und Grube. Entweder war der Bagger seit heute Morgen signifikant gewachsen, oder – ich traute mich kaum, es für möglich zu halten – die Grube war zu klein.
    Ich schloss die Augen und versuchte es mit autogenem Training. Sicher war alles eine optische Täuschung. Schuld waren ganz allein mein Dauerstress und der babybedingte Schlafentzug. Für diese Sichtweise sprach, dass Kosewitz völlig entspannt seinem Tagwerk nachging. In gewohnt einfühlsamem Ton dirigierte er den Bagger über die am Morgen planierte Rampe rückwärts aus der Grube.
    »Komm, komm, los jetzt, du Blödmann, weiter links hab ick jesagt. Biste denn total bescheuert? Liiiinks.«
    Trotzdem kam ich von meinem Trip nicht runter. Mit der verflixten Grube war irgendetwas faul.
    »’tschuldigung, Herr Kosewitz. Ich will nicht meckern. Aber die Grube, ich meine, die Außenmaße, kurzum: Ist das Loch nicht zu klein?«
    »Na hörn Se mal, Herr Topas. Wir sind doch keene Anfänger. Ick hab bei de NVA schon Gruben für den Klassenfeind jebuddelt, vastehn Sie, wat ick meine?«
    »Klar, Herr Kosewitz. Das verstehe ich. Aber Fehler kommen in den besten Familien vor. Wollen wir nicht spaßeshalber kurz nachmessen?«
    »Herr Topas, wir Profis sajen: Wer viel misst, misst viel Mist. Aba jut, ick bin keen Unmensch. Ick hol n Sssolli, und danach jeben Se mir für die Beleidijung n Pils aus.«
    Während ich meinen quengelnden Kleinen ins Auto setzte und ihm zur Ablenkung einen Lolli gab, suchte Kosewitz laut vor sich hin grummelnd einen Zollstock und sprang in die Grube. Mit bewundernswerter Ausdauer weiterfluchend, legte er sorgfältig Maß an und verkündete am Ende seiner umständlichen Prozedur vor Selbstzufriedenheit platzend: »Wat hab ick jesacht? Zehn uff zwölf Meter. Jeplant und jemacht.« Am liebsten hätte ich den König des logischen Denkens in seinem eigenen Mumpitz begraben.
    »Zehn auf zwölf sind NETTO-Maße! Da muss an den Seiten mindestens ein Meter drauf. Wo sollen die Leute sonst arbeiten?«
    Kosewitz starrte mich mit offenem Mund ausdruckslos an. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, hatte es ihm die Sprache verschlagen. Man konnte richtig sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete und er sich nicht sicher war, ob ich der Depp war oder er. Im Gegensatz zu ihm kannte ich die Antwort schon. Nach rund einer Minute kam er offenbar zu demselben Ergebnis.
    »Dit jibts doch jar nich«, murmelte er. »Wat soll ick sagen, Herr ... äh ... So wat hab ick ja noch nie erlebt.«
    »So wat hab ick ja noch nie erlebt.« Dieser Satz, den ich hier zum ersten Mal hörte, sollte in den nächsten Monaten zum Soundtrack meines Baustellenlebens werden, zur immerwährenden

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