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Das Daemonenschiff

Das Daemonenschiff

Titel: Das Daemonenschiff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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und welche fremden Länder und Völker die Männer
an Bord wohl entdecken werden.«
Sie sah Andrej an. »Hast du das nicht getan, als du ein Kind
gewesen bist?«
War er denn jemals ein Kind gewesen? »Da, wo ich herkomme, gibt es kein Meer«, sagte er.
Urd wirkte ehrlich überrascht. »Kein Meer?«, vergewisserte
sie sich. »Das glaube ich nicht. Es kann kein Land ohne eine
Küste geben.«
»Natürlich gibt es eine Küste. Aber unser Land ist …« Er
suchte einen Moment nach Worten. »… größer als eure Insel.
Viel größer.«
Und als Urd ihn ungläubig ansah, deutete Andrej in die Runde.
»Wie weit kannst du auf eurer Insel in jede Richtung gehen, bis
du zum Meer kommst?«
»Einen halben Tag«, antwortete Urd und fügte mit einem
Lächeln hinzu: »Wenn du dich nicht zu sehr beeilst. Aber ich
weiß, dass es Inseln gibt, die viel größer sind. Um König Osriks
Reich zu durchqueren, bräuchtest du viele Wochen.«
»Von dort aus, wo ich geboren bin, müsstest du ein Jahr
wandern, um das Meer zu erreichen«, sagte Andrej. »Und in der
anderen Richtung ist das Land so groß, dass ein Menschenleben
nicht ausreichen würde, um es zu Fuß zu durchqueren.«
Urds Blick ließ kaum Zweifel daran aufkommen, was sie von
dieser Geschichte hielt. Trotzdem sagte sie: »Dann muss es eine
wirklich gewaltige Insel sein.«
»Man nennt sie Kontinent«, erwiderte Andrej. »Aber du hast
recht. Sie ist gewaltig. Und wunderschön.«
»Und jetzt wirst du mich gleich fragen, ob ich deine Heimat
nicht kennenlernen will«, vermutete sie. Andrej schwieg dazu.
»Du hast mich gefragt, warum wir hierher gekommen sind«, fuhr
Urd nach einem Augenblick fort, gerade, als die Stille zwischen ihnen
drückend zu werden drohte. »Ich wollte den Schiffen zusehen und den
Männern. In ein paar Tagen werden sie zurückkehren und sehr viel
mehr Krieger mitbringen. Hunderte. Und viele von ihnen werden ihre
Heimat und ihre Familien vielleicht niemals wiedersehen.«
»Ich weiß«, sagte Andrej. Er glaubte nun zu wissen, worauf
Urd hinaus wollte.
Für die nächste Frage, die er ihr stellte, hasste er sich selbst,
aber er stellte sie trotzdem: »Hat dich dein Bruder geschickt, um
mich auf die Probe zu stellen?«
»Thure?« Urd schien ihm die Frage nicht übel zu nehmen.
»Oh nein. Ich glaube nicht, dass er besonders erfreut wäre, wenn
er wüsste, dass wir dieses Gespräch führen. Ich … wollte nur
sicher sein, dass du auch das Richtige tust.«
»Du willst diesen Krieg nicht.«
»Nein«, antwortete Urd. »Viele werden sterben. So viele
Mütter werden um ihre Söhne weinen, und viele Schwestern um
ihre Brüder. Nein, ich will diesen Krieg nicht.« Sie atmete
hörbar ein. »Aber ich will auch dieses Leben nicht mehr. Mein
Volk stirbt, wenn die Herrschaft der falschen Götter nicht
gebrochen wird.«
»Weil sie euch den Weg zu euren Fischgründen verwehren?«
Urd sah ihn beinahe überrascht an. »Hat Thure dir das erzählt?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Osrik.«
»Dann hat er wohl eine andere Art von Fischgründen gemeint«, spottete sie und strich eine Strähne ihres langen blonden
Haares zurück, die der Wind losgerissen hatte. Die Bewegung
war ganz beiläufig, und trotzdem von einer so selbstverständlichen Anmut, dass es ihm schwer fiel, sich auf ihre Worte zu
konzentrieren.
»Dann haben sie mich belogen?«, fragte Andrej. »Willst du
das damit sagen?«
»Oh, nein«, antwortete Urd hastig. »Sie haben schon die
Wahrheit gesagt, jeder auf seine Art. Mein Bruder bewundert
dich, Andrej, dich und deinen großen schwarzen Freund. Ich
glaube, er fürchtet euch auch ein wenig – zumindest Abu Dun –,
aber vor allem bewundert er dich. Thure ist im Grunde ein
großes Kind geblieben. Er bewundert alles, was stark ist. Er
würde dich niemals belügen.« Sie schüttelte noch einmal und
noch heftiger den Kopf, und der Wind frischte zu einer eisigen
Brise auf, die ihnen einen so intensiven Schwall von Salzwassergeruch entgegentrieb, dass ihm für einen Moment der Atem
genommen wurde. Feine, schmerzhaft kalte Gischt durchnässte
sie. Trotzdem zuckte Urd nicht mit der Wimper, sondern blickte
nur weiter auf das Meer hinaus und hielt ihr widerspenstiges
Haar mit einer Hand zurück. »Sie haben die Wahrheit gesagt.
Unser Volk leidet. Immer mehr junge Männer gehen fort, um
nie wiederzukehren. Aber das war schon immer so. Wir sterben
nicht, weil die Winter zu hart werden oder unsere Netze leer
bleiben. Wir sterben, weil wir

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