Das Dalai-Lama-Prinzip für Paare: Wie achtsame Liebe gelingt
haftet ein mieser, hilfloser Ruf an. Und so kommt es, dass wir ständig unsere Meinung sagen, unseren Standpunkt vertreten, uns verteidigen. Selbst wenn wir fordern: »Hör mir doch zu!«, wollen wir in Wahrheit etwas mitteilen. Nämlich dies: Pflichte mir bei! Tu, was ich dir sage!
Weil wir in einer Welt voller Geräusche leben, können wir Stille schlecht ertragen. Einfach Zeit vergehen lassen, nicht kommentieren, was der andere sagt, gelassen warten, ob er noch etwas von sich preisgibt. Hören, was der andere uns über seine Angst, seine Zweifel, seine Enttäuschung zu sagen hat. Bereit sein, sich zumindest für einen kurzen Moment von seinen eigenen Gewohnheiten und seinen Überzeugungen zu trennen: Diese Fähigkeit scheint kulturell nur kümmerlich in uns verankert zu sein. Wie schade! Denn wenn uns jemand über längere Zeit aufmerksam zuhört, wenn er freundlich nachfragt, »ist das ein Geschenk, in dessen Glanz wir uns sonnen und die Tiefen unserer Seele offenbaren können«, schwärmt Rebecca Shafir. In einer solchen Atmosphäre haben Missverständnisse kaum einen Platz.
Kulturell betrachtet haben Paare in der westlichen Welt einen Nachteil, und der lässt sich sogar wissenschaftlich
belegen. Eine länderübergreifende Studie zeigte, dass sich Amerikaner im Schnitt doppelt so viel unterhalten wie Japaner. Westliche Kulturen bringen es in 24 Stunden auf 6 Stunden und 43 Minuten Sprechzeit: mit Freunden, mit Kollegen, mit der Familie – und mit dem Partner. Japaner reden nur 3 Stunden und 31 Minuten. Fazit der Forscher, nachdem sie ihre Probanden über einen längeren Zeitraum beobachtet hatten: Bei den Menschen im Westen kommt das Reden an erster, das Zuhören an zweiter und das aufmerksame Beobachten an dritter Stelle. In fernöstlichen Kulturen ist die Reihenfolge genau umgekehrt: Beobachten. Zuhören. Reden.
Anne-Bärbel Köhle
Zu Beginn unserer Beziehung, als wir beide noch Studenten waren, sprachen Fergus und ich ohne Unterlass miteinander. Wir redeten die Nächte durch, erzählten uns, wovon wir träumten, was wir werden wollten, spekulierten, ob wir später einmal eine Familie haben würden oder nicht. Alles, was Fergus sagte, war spannend. Und auch er hörte mir gebannt zu. Schließlich ging es in dieser Phase darum, eine gemeinsame Geschichte zu etablieren, aber auch, dem anderen zu zeigen, wie man selbst war, sich also in den Augen des anderen selbst zu erfinden.
Ich glaube nicht, dass wir damals echte Dialoge geführt haben, dass wir einander tief und mitfühlend zugehört hatten. Frisch verliebt wie wir waren, spielte das auch (noch) gar keine Rolle. Wir waren damals einfach überzeugt, perfekt zusammenzupassen und uns wortlos (beziehungsweise wortreich) zu verstehen. Die Fähigkeit, uns gegenseitig wirklich zuzuhören, kam erst viel später. Und zwar nachdem wir uns gegenseitig genau dieselben Vorwürfe gemacht hatten wie vermutlich fast alle Paare: »Warum wickelst DU nicht mal deinen Sohn?« »Wieso arbeitest DU schon wieder so lange?« »Siehst DU nicht, wie müde ich nach einem langen Bürotag bin?«
Im Laufe unserer Partnerschaft durchliefen wir diverse Phasen der Wortlosigkeit, des Streitens, des Nicht-Verstehens. Es waren Zeiten, in denen wir uns immer mal wieder innerlich voneinander entfernten, bis wir beide den Zustand unerträglich fanden und doch wieder begannen, wirklich miteinander zu reden. Unsere Erfahrung dabei: Je anstrengender der Alltag, umso schwieriger ist es, sich in die Welt des anderen zu versetzen, Ruhe und Stille in der Partnerschaft zuzulassen. Umso wichtiger ist es aber auch gerade dann, Zeit füreinander zu gewinnen, um tatsächlich einander zuzuhören. Heute, da unsere beiden Söhne nahezu aus dem Haus sind, wir uns beruflich etabliert haben und jeder die Eigenheiten des anderen kennt, gelingt das natürlich viel besser.
Wieder miteinander reden lernen
Warum fällt es uns so schwer, einfach mal den Mund zu halten? Weil Schweigen mehr ist, als nichts zu sagen, wissen Buddhisten. Für sie hat Zuhören nichts mit Wortlosigkeit zu tun, sondern mit Achtsamkeit. Mit dem Bedürfnis, sich ganz und gar auf sein Gegenüber einzustellen. Zu warten, bis der andere mit seinem Gedanken zu Ende ist. Und: dem anderen wertfrei und präsent zuzuhören.
Aber wie soll das gehen, werden manche jetzt einwerfen, wenn zwei Menschen auf völlig verschiedenen Dampfern unterwegs sind? Wenn der eine tatsächlich in der Partnerschaft zu kurz kommt, sich nicht verstanden fühlt, den
Weitere Kostenlose Bücher