Das Darwin-Virus
offensichtlich eine Überreaktion. Sie fragte sich, wie es wohl weitergehen würde.
Wenn Mitch am nächsten Morgen aufwachte, einfach sagen, es sei ein Fehler gewesen?
Beängstigender Gedanke. Sie fürchtete nicht etwa, er werde ihr wehtun; er war so sanft, wie ein Mann nur sein konnte, und ließ so gar keine Anzeichen für den Hader mit sich selbst erkennen, der Saul so zugesetzt hatte.
Mitch sah nicht so gut aus wie Saul.
Andererseits war Mitch völlig aufrichtig und ehrlich.
Er hatte sich um sie bemüht, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihn verführt hatte. Und ganz sicher hatte sie nicht den Eindruck, dass er ihr etwas aufgezwungen hatte.
»Was um Himmels Willen tust du hier eigentlich?«, murmelte sie in der Dunkelheit. Sie sprach mit ihrem anderen Ich, mit der starrköpfigen Kaye, die ihr so selten sagte, was eigentlich los war.
Sie stand auf, zog den Morgenmantel an, ging zum Schreibtisch im Wohnzimmer und zog die mittlere Schublade heraus, in der sie ihre Kontoauszüge aufbewahrte.
Den Erlös aus dem Verkauf des Hauses und das Guthaben beim Pensionsfonds zusammengerechnet, besaß sie sechshunderttausend Dollar. Wenn sie bei Americol und der Taskforce kündigte, konnte sie davon unter bescheidenen, aber angenehmen Bedingungen jahrelang leben.
Ein paar Minuten lang addierte sie auf einem Zettel ihre Ausgaben: Notgroschen, Aufwendungen für Lebensmittel, monatliche Zahlungen. Dann richtete sie sich in ihrem Stuhl auf. »Das ist doch dummes Zeug«, sagte sie. »Was habe ich eigentlich vor?«
Und ihr starrköpfiges, verborgenes Ich fügte hinzu: »Was ist eigentlich mit dir los?«
Sie würde Mitch morgen nicht sagen, er solle verschwinden. Sie fühlte sich wohl mit ihm. In seiner Nähe wurde sie innerlich ruhiger, Ängste und Sorgen bedrückten sie weniger. Er schien zu wissen, was er tat. Vielleicht wusste er es wirklich. Vielleicht war es die Welt, die so verrückt war, die Fallen stellte, Stolperdrähte spannte und die Menschen zu üblen Entscheidungen zwang.
Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf das Papier, riss noch ein Blatt vom Block. Ihre Finger führten den Stift fast automatisch, ohne dass sie dabei bewusst dachte, und skizzierten eine Reihe offener Leseraster auf den Chromosomen 18 und 20, die vermutlich mit den SHEVAGenen verwandt waren; man hatte sie früher als potenzielle HERVs betrachtet, aber es hatte sich herausgestellt, dass sie nicht die typischen Merkmale von Retrovirusfragmenten besaßen.
Sie musste sich diese Loci, diese verstreuten Bruchstücke genauer ansehen und herausfinden, ob sie möglicherweise zusammenpassten und exprimiert werden konnten. Das Projekt schob sie schon seit einiger Zeit vor sich her; morgen war der richtige Zeitpunkt.
Bevor sie sich für irgendetwas einsetzte, brauchte sie Munition.
Eine Rüstung.
Sie ging wieder ins Schlafzimmer. Mitch schien zu träumen.
Fasziniert legte sie sich, ohne ein Geräusch zu machen, neben ihn.
Vom Gipfel der schneebedeckten Anhöhe aus konnte der Mann die Schamanen und ihre Helfer erkennen, die ihn und sein Weib verfolgten. Dass sie beide Spuren im Schnee hinterließen, war nicht zu vermeiden, aber selbst im Gras der Niederungen und im Wald hatten die Kundigen ihre Fährte nicht verloren.
Der Mann hatte sein Weib, das mit dem Kind schwer und langsam war, hier heraufgebracht, weil er mit ihr in ein anderes Tal hinüberwechseln wollte, in dem er als Kind schon einmal gewesen war.
Er sah sich nach den Gestalten um, die nur wenige hundert Schritte hinter ihnen waren. Dann blickte er auf die vor ihm liegenden Klippen und Felsspitzen, die ihm wie zahllose umgestürzte Feuersteine vorkamen. Er hatte die Orientierung verloren, konnte sich nicht mehr an den Weg ins andere Tal erinnern. Die Frau sagte jetzt kaum noch etwas. Das Gesicht, das er früher einmal mit so viel Hingabe angesehen hatte, war hinter der Maske verborgen.
Der Mann war von großer Bitterkeit erfüllt. Hier oben sogen sich die Grassohlen der dünnen Schuhe mit Schneewasser voll.
Die Kälte kroch an den Waden hoch, stieg bis zu den Knien hinauf und ließ sie schmerzen. Obwohl er das Fell nach innen gewendet hatte, schnitt ihm der Wind in die Haut und beraubte ihn seiner Kraft, nahm ihm den Atem.
Die Frau trottete weiter. Wenn er sie im Stich ließ, konnte er davonkommen, das wusste er. Und dieses Wissen machte ihn noch wütender. Er hasste den Schnee, die Schamanen, die Berge; er hasste sogar sich selbst. Aber er brachte es nicht übers Herz, sein
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