Das Dekameron
damit er ihre Augen sähe; dann aber schien sie ihm so über allen Vergleich schöner als alle Frauen, die er je zuvor gesehen, daß er geneigt war, sie für eine Göttin zu halten, und wenigstens so viel richtiges Empfinden hatte er, daß er einsah, göttliche Dinge verdienten größere Ehrfurcht als irdische. So gewann er es denn über sich abzuwarten, bis sie von selbst aufwachte, und so lang ihm auch ihr Schlaf vorkam, wußte er sich, in das Vergnügen ihres Anschauens versunken, doch nicht loszumachen.
Endlich, obwohl nach einer geraumen Zeit, geschah es, daß die junge Schöne, die Iphigenie hieß, früher als einer der Ihrigen erwachte. Als sie nun den Kopf hob, die Augen aufschlug und Kimon, auf seinen Stab gelehnt, vor sich stehen sah, erstaunte sie nicht wenig und sagte: »Kimon, was suchst du zu dieser Stunde hier im Gehölz?« - denn sowohl wegen seiner schönen Gestalt und seiner Blödsinnigkeit als auch wegen des Adels und Reichtums seines Vaters war Kimon fast jedem in der Gegend bekannt. Er aber antwortete auf Iphigeniens Worte nicht eine Silbe, sondern blickte unverwandt in ihre Augen, sobald sie diese aufgeschlagen hatte, und glaubte eine von ihnen ausgegangene Süße zu empfinden, die ihn mit nie gekannter Wonne durchdrang. Als die Schöne sein Betragen gewahr wurde, begann sie zu fürchten, daß er infolge seiner Roheit von diesem starren Anschauen zu Dingen übergehen könnte, die ihre Schamhaftigkeit gefährdeten. Deshalb rief sie ihre Dienerinnen, erhob sich vom Boden und sagte: »Lebe wohl, Kimon.« Kimon erwiderte sogleich: »Ich gehe mit dir.« Und obgleich die junge Dame, weil sie fortwährend wegen seiner Absichten besorgt war, seine Begleitung ablehnte, konnte sie ihn doch auf keine Weise eher von sich entfernen, als bis er sie zu ihrer Wohnung geleitet hatte.
Von dort ging er sogleich zu seinem Vater und erklärte ihm, unter keiner Bedingung aufs Land zurückkehren zu wollen. Freilich war dies nun dem Vater und den übrigen Angehörigen gar nicht gelegen; sie ließen ihn jedoch in der Stadt, um abzuwarten, wodurch Kimon so umgestimmt worden sei. Dieser aber, dessen jeder guten Lehre unzugängliches Herz Iphigeniens Schönheit mit dem Pfeil der Liebe durchdrungen hatte, schritt von einem guten Vorsatz immer weiter zu neuen und erregte binnen kurzem das Erstaunen seines Vaters, aller seiner Verwandten und überhaupt eines jeden, der ihn gekannt hatte. Zuerst bat er den Vater, ihn in der Gewandung und in allem ändern ebenso geschmückt wie seine Brüder einhergehen zu lassen, und der Vater tat es mit Freuden. Dann suchte er den Umgang wackerer junger Leute und erforschte von ihnen, was für Sitten adeligen Männern, besonders aber den Liebenden geziemen, und lernte zu jedermanns größter Verwunderung in kurzer Zeit nicht allein die Anfangsgründe der Wissenschaften, sondern machte sich auch die Weltweisheit auf das vollkommenste zu eigen. Wie seine Liebe zu Iphigenie ihn zu dem allen geführt hatte, so verwandelte sich auch ferner seine rauhe und bäuerische Stimme in eine wohlklingende und gebildete und ließ ihn des Spiels und des Gesangs wohlerfahren und im Reiten und in den Waffenübungen zu Wasser und zu Lande geübt und tapfer werden. Kurz, um nicht alle seine Geschicklichkeiten im einzelnen aufzählen zu müssen: noch war seit dem Tage, an dem er sich zuerst verliebt hatte, das vierte Jahr nicht verstrichen, als er schon alle jungen Männer, die auf der Insel Zypern zu finden waren, an Artigkeit, guten Sitten und vorzüglichen Eigenschaften übertraf.
Wie sollen wir, o holde Damen, uns nun wohl diese Erscheinung erklären? Gewiß, wir können es nur dadurch, daß wir voraussetzen, ein neidisches Geschick habe die hohen Anlagen, mit denen der Himmel Kimons Seele ausgestattet hatte, in den engsten Raum seines Herzens zusammengedrängt und dort mit den festesten Banden so lange gefesselt und verschlossen, bis der gewaltigere Amor alle jene Ketten sprengte und zerbrach, die schlummernden, von trauriger Betäubung umnachteten Lebensgeister erweckte und mit seiner Kraft ans helle Licht zog, um dadurch zu offenbaren, aus welcher Dunkelheit er die ihm ergebenen Geisteskräfte durch seine Strahlen zum vollen Glanze zu führen vermöge.
Ob Kimon nun wohl nach der üblichen Art verliebter Jünglinge bei seiner Liebe zu Iphigenie in einigem das Maß überschritt, so ertrug Aristipp dergleichen nicht allein mit Geduld, sondern ermunterte ihn, in der Erwägung, daß ja die Liebe ihn vom Tier
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