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Das Diamantenmädchen (German Edition)

Das Diamantenmädchen (German Edition)

Titel: Das Diamantenmädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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ihr.
    »Bis später.«
    Er ging, ohne einen Abschied abzuwarten. Die großen hölzernen Flügeltüren zur Haupthalle schlossen sich geräuschlos wieder. Lilli war allein. Allein mit sich und ihren Gefühlen und ihren Gedanken. Aus der Vitrine sah sie ein ausgestopfter Papageienfisch starr an.
    »Was?«, fragte Lilli ihn wütend, um sich Luft zu machen. Der Fisch antwortete nicht, sondern drehte sich leise an seinem Faden in einem unmerklichen Luftzug.
    Lilli musste trotz ihrer Nervosität über sich selbst lachen.
    »Ja, ja«, entschuldigte sie sich bei ihm, »aber was weißt du schon von der Liebe in modernen Zeiten?«
    Erst, als sie um die Vitrine herumging, um den Saal zu verlassen, bemerkte sie einen der Professoren von vorhin, der eben hereingekommen sein musste und ihr jetzt etwas fassungslos, aber immer noch höflich die Tür aufhielt.
    »Auf Wiedersehen«, murmelte Lilli, und: »Danke.«
    Der Professor antwortete aber genauso wenig wie der Papageienfisch, und obwohl es immer noch regnete, war Lilli froh, als sie wieder auf der Straße stand.

26
    Ein Sonntag im September. Der letzte Ferientag. Die Stadt war von der Hitze eines langen Sommers gesättigt. Die Villen in den Zehlendorfer Alleen lagen leuchtend weiß im schon etwas staubigen Grün der alten Bäume. Es war der Sommer 1913, und Lilli war vor drei Wochen vierzehn Jahre alt geworden. Am Sonnabend waren sie aus der Sommerfrische in den Bergen wieder nach Hause gekommen. Es waren seltsame Ferien gewesen, in denen sie oft am Abend noch aus der Pension geflohen war, in der sie wohnten, seit sie denken konnte. Dann war sie durch das kleine bayerische Dorf gegangen, auf dessen ungepflasterten Straßen die hoch beladenen Heuwagen schwankten, manche von Ochsen gezogen, manche von schweren Pferden. Ein Ferienduft war das – Heu und der warme Geruch von Milch, der abends fast überall in der Luft hing, wenn die Mägde auf den Höfen die Milcheimer vom Stall ins Haus trugen. In Berlin gab es das nicht. Sie war dann über die abgemähten Wiesen durch den warmen Sommerabend zum Waldrand gelaufen, wo es einen Ansitz gab, den sie mochte, weil man von dort aus bis zu den Bergen sehen konnte. Die Sonne stand tief im Westen, die Berge wurden allmählich rot, und über dem Horizont lagen ein paar Abendwolken in langen, dunklen Streifen. Hier, am Waldrand, roch es nach dem Harz, das ein heißer Tag aus den Kiefern hatte tropfen lassen. Lilli hatte auf dem Hochsitz gesessen, die Knie bis ans Kinn gezogen, hatte in die Ferne über die Berge gesehen und davon geträumt fortzugehen. Es war ein seltsamer Sommer. So vieles war anders geworden. Sie hatte keine Lust mehr an den Kinderspielen gehabt, kein Vergnügen mehr an den abendlichen Kartenspielen, die sie als Kind in den Ferien so geliebt hatte. Mit Wilhelm hatte sie sich fast jeden Tag gestritten – er war so ein Flegel geworden – und mit Mama auch. Wenn sie dann an solchen Abenden endlich alleine war, den Wind hörte, wie er rauschend durch den Wald ging, die Grillen, wie sie ihr eintöniges Singen begannen, von weit unten im Tal die heiseren Pfiffe der Lokomotiven, dann war es, als ob irgendetwas an ihr zöge, ganz leicht nur, aber doch so, dass es einem auf Dauer das Herz aus der Brust risse, wenn man dem Zug nicht folgte. Nur wusste sie nicht, wohin. An solchen Abenden hatte sie manchmal vor Sehnsucht fast geweint, ohne dass sie hätte sagen können, was sie hätte heilen können.
    Und nun war sie zurück in Berlin. Der letzte Ferientag. Abschied nehmen vom Sommer und der Unendlichkeit der freien Tage. Es war ein Sommertag, so heiß wie im August, und die Luft stand so flimmernd über den Dächern wie je, aber irgendwo, vielleicht an einem dunkleren Grün der Lindenblätter, an einer Brise Kastanienduft in der Luft oder vielleicht auch nur in einem Windstoß, der die feuchtheiße Haut traf und einen für eine Sekunde frösteln ließ, irgendwo in diesen Dingen lag schon ein Hauch vom Herbst. So, als müsste man sich beeilen, die letzte Süße aus diesem Sommer zu pressen, bevor er wirklich vorbei war. Es war dieses Gefühl, das in Lilli aufstieg, als sie zusammen mit Wilhelm und Paul und Liese Scharnow zum Schlachtensee fuhr. Lilli hatte das Fahrrad ihrer Mutter, und sie musste im Stehen fahren, denn obwohl sie nun schon vierzehn war – ganz so groß wie ihre Mutter war sie noch nicht, und der Sattel war ihr zu hoch. Wilhelm hatte sein eigenes Rad, Paul auch, und Liese Scharnow saß bei Paul auf der Lenkstange.

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