Das Diamantenmädchen (German Edition)
sich auf die Zunge. Wenn sie sich jetzt vor Paul als Zimperliese blamierte, würden die Jungs sie nie mehr mitnehmen. Trotzdem – die Freude und die Lust am Abenteuer wurden jetzt von einer ängstlichen Aufregung getrübt. Auch Paul sah etwas unsicher zu Wilhelm hin, der ungeschickt versuchte, das Huhn auf den Stein zu drücken, während er nicht recht wusste, wie er es jetzt anstellen sollte. Anscheinend war es eben doch etwas anderes, der Köchin dabei zuzusehen, wie sie ein Huhn schlachtete, als es selbst mit einem Messer zu tun. Aber je mehr das Huhn flatterte und aufgeregt gackerte, desto entschlossener wurde Wilhelm. Er biss die Zähne zusammen und hatte das Huhn jetzt fest im Griff. Dann hob er das Messer und rief halblaut:
»Ich opfere dich für Wotan!«
Dann senkte er das Messer mit Wucht auf den Hals des Huhns, das sich verzweifelt wehrte, auch, weil das Messer nicht scharf genug war und mehr riss als schnitt.
»Iiiih«, sagte Lilli abgestoßen, aber sie musste zusehen, wie Wilhelm jetzt wütend noch zwei- oder dreimal mit dem Messer auf den Hals des Huhns einhackte, bis endlich der Kopf abfiel und das Blut aus dem Hals spritzte. Wilhelm richtete sich triumphierend auf und ließ das Huhn los, um sich das Blut abzuwischen. Aber das geköpfte Huhn flatterte in einem letzten Reflex und rannte noch einmal sechs, sieben Schritte vom Stein weg in Lillis Richtung, bis es endlich umfiel. Da warf Wilhelm den Kopf zurück und lachte laut. Lilli konnte nicht sagen, was es war, aber in diesem Augenblick hasste sie ihren Bruder, der so herzlos sein konnte. Sie hatte schon oft gesehen, wie Hühner geschlachtet wurden, und auch, wie sie manchmal noch kopflos durch den Hof rannten, aber das hier war anders. Es war, als hätte es Wilhelm Spaß gemacht, das Huhn zu töten.
»Du Nulpe!«, schrie sie ihn an. Es war das schlimmste Schimpfwort, das sie kannte. Wilhelm aber sagte immer noch lachend:
»Es ist bloß ein Huhn! Los jetzt! Wenn du zu feige zum Armanen bist, dann hau doch ab.«
Aber jetzt konnte Lilli auch nicht mehr verschwinden. Sie nahm mit spitzen Fingern das leblose Huhn an einem Flügel und legte es zurück auf den Stein. Sie wollte es bloß irgendwie von sich entfernen, aber Wilhelm missverstand diese Geste so, als hätte sie sich zusammengerissen und wollte mitmachen. Er nickte Paul zufrieden zu.
»Jetzt du!«
Paul nahm das Schächtelchen, das er mitgebracht hatte, und öffnete es. Ein Ring lag darin, der in der Augustsonne so grün wie die Blätter der Weide daneben leuchtete. Drei Smaragde waren in ihm als dreiblättriges Kleeblatt gefasst.
»Ist er erobert?«, fragte Wilhelm streng.
Paul nickte.
»Ich hab ihn … ich hab ihn aus dem hinteren Schrank geholt«, sagte er schnell, »da liegt nur der alte Schmuck, der nie abgeholt wurde, das merkt keiner.«
Er streckte die Hand nach Wilhelms Fahrtenmesser aus und legte den Ring auf den Stein. Dann begann er, mit der Spitze des immer noch blutigen Messers, die drei Steine aus dem Ring zu brechen. Als er den ersten endlich lose hatte, flog der ins Gras, und sie mussten ihn lange suchen, bis sie ihn wiederfanden. Mit den beiden anderen Smaragden war es einfacher. Wilhelm legte sie neben das Huhn, aus dessen Hals allmählich eine kleine Blutlache auf den Stein gesickert war. Dunkelrot glänzte das Blut in der Sonne. Obwohl sie sich ein bisschen ekelte, musste Lilli zugeben, dass die Farben von Smaragd und Blut gut zusammenpassten. Wilhelm nahm den ersten Stein und stupste ihn kurz in die Lache.
»Ich mache dich zum Armanen!«, sagte er feierlich und reichte ihn Paul.
»Du musst dich hinknien!«, sagte Wilhelm halblaut, als Paul einfach die Hand ausstreckte. Paul kniete sich hin. Lilli sah kurz zwischen Wilhelm und Paul hin und her, dann kniete sie sich daneben. Wilhelm tunkte den zweiten Stein in das Blut und sagte wieder:
»Ich mache dich zum Armanen!«
Lilli war es jetzt doch etwas bang ums Herz. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hatte das Gefühl, als sei sie einen Schritt zu weit gegangen, als täte sie jetzt etwas, das sie nicht rückgängig machen konnte, aber sie hielt doch die Hand auf. Wilhelm legte ihr den Smaragd in die Hand. Er sah ein bisschen aus wie ein umgekehrtes Herz, fand sie. Schließlich nahm er den letzten und reichte ihn Paul, der jetzt aufstand, während sich Wilhelm hinkniete und den Stein in Empfang nahm.
Als alles vorbei war, richtete er sich zufrieden auf.
»Jetzt sind wir Armanen!«, sagte er. »Und für
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