Das Diamantenmädchen (German Edition)
fremde Menschen in dem Haus wohnten, in dem sie aufgewachsen war. Die Akazie, deren Duft im Frühjahr immer in ihr Zimmer geweht war, hatte schon fast alle Blätter verloren. Sie sah zu ihrem alten Fenster hoch, als sie im Küchenfenster aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung des Vorhangs wahrnahm. Zuerst dachte sie an eine verirrte Katze, aber dann sah sie, dass dort jemand in dem Haus stand. Sie brauchte einen langen Augenblick, bis sie tödlich erschrocken erkannte, wer sie da kühl und ungerührt beobachtete. Es war der Mann aus den Revolutionstagen. Der Mann, der sie seit sieben Jahren bis in ihre Träume verfolgte. Es war der Mann ohne Gesicht.
15
Schambacher und Togotzes liefen. Der Tag war für Sport wie gemacht. Als sie losgelaufen waren, hatten sie beide gefröstelt, die Sonne ging eben erst diesig rot auf, und der Morgennebel hing noch zwischen den Bäumen. Togotzes wohnte in Moabit, und zweimal in der Woche trafen sie sich, um rings um den Tiergarten zu laufen. Sieben Kilometer waren es, Schambacher hatte ihren Weg auf dem Messtischblatt einmal mit dem Kartenrädchen genau abgemessen, sechs Komma neun zwei, um genau zu sein. Sie liefen meistens zwei Runden, es sei denn, es gab dringende Fälle, zu denen sie schon morgens gerufen wurden. Sportlich waren sie beide, Togotzes focht zudem, und er selber war vor dem Krieg ein guter Turner gewesen und ging auch jetzt noch manchmal in den alten Turnverein, um am Reck ein paar Schwünge zu machen. Der Krieg hatte manches verändert, und es gab Tage, an denen er irgendwie schlecht Luft kriegte, aber das passierte eigentlich nur im tiefen Winter, wenn es sehr kalt war. Das lag am Gas, dachte er, aber immerhin konnte er immer noch vierzehn Kilometer laufen und danach mit ruhiger Hand sechzehn Punkte schießen. Andere hatten keine Beine mehr.
Die meisten Vögel waren schon nach Süden geflogen, aber die Krähen riefen heiser, und auf den Wiesen neben dem neuen See standen reglos ein paar Dohlen, die den Kopf schief legten, als sie an ihnen vorbeiliefen. Nebelschwaden hingen leicht und bewegungslos über dem Wasser, das still wie ein Spiegel lag.
»Und, ist sie Jüdin?«, fragte Togotzes schnell atmend. »Kornfeld … ist ein jüdischer Name, oder?« Er lief locker, die Arme nicht zu eng am Körper, wie eine Maschine.
Schambacher zuckte mit den Achseln.
»Weiß ich nicht«, sagte er ebenso knapp, »glaube nicht.«
Er hatte auch schon einmal kurz darüber nachgedacht, aber eigentlich war es ja egal. Wenn überhaupt, dann war sie bestimmt keine typische Jüdin.
»Und der Smaragd?«, fragte Togotzes weiter. »Sicher, dass es derselbe ist?«
»Der gleiche«, verbesserte Schambacher ihn grinsend zwischen zwei Atemzügen und verfiel für einen Augenblick in den Dialekt, »ha’ck dir schon dausend mal jesacht. Det selbe is nich det jleiche! Doofes Ding!«
»Schnauze!«, schnaufte Togotzes grinsend. »Also? Genau gleich?«
»Identisch!«, bestätigte Schambacher.
Sie waren jetzt ungefähr auf Höhe der Siegessäule und liefen weiter nach Westen. Ihr Atem rauchte in der kalten Luft. Ein paar Augenblicke schwiegen sie, und man hörte nichts als das raschelnde Laub unter dem Rhythmus ihrer Schritte und ihr schnelles, taktgleiches Atmen. Sie liefen nah am Marineamt vorbei und dann wieder ein Stück tiefer in den Tiergarten. Von einer Kirche hörte man einen einzelnen Glockenschlag. Viertel nach sieben. Schambacher wurde allmählich warm. Die Muskeln lockerten sich, und das Laufen wurde immer gleichmäßiger und leichter. Das war der schönste Teil, bevor man sich später richtig anstrengen musste.
»Und ich habe nachgesehen«, sagte er dann, »van der Laan war vor dem Krieg Diamantenschleifer. Ganze Dynastie von Juwelenhändlern, die Familie. Durch den Krieg bisschen runtergekommen, aber der Mann scheint immer noch ganz gut zu leben. Wohnt in Zehlendorf.«
Togotzes zog mit dem Tempo ein wenig an.
»Na, is doch erste Sahne!«, sagte er zufrieden. »Haste den Fall doch janz alleene jelöst. Ick sare ja imma: Kommissar Zufall hilft, wo andere nur raten könn.«
Schambacher schnaubte halb belustigt, halb verächtlich: »Kommissar Zufall! Idiot.«
Aber eigentlich hatte Togotzes natürlich recht. Perfektion war einfach nicht menschlich. Es gab immer irgendetwas, das übersehen wurde. Immer etwas, womit man nicht rechnete. Und wenn man jemanden ermordete, dann umso mehr. Irgendeine Kleinigkeit gab es immer. Er war heute schon sehr früh aufgewacht, gegen vier Uhr,
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