Das Diamantenmädchen (German Edition)
hätte er Wilhelm nicht gehört.
»Der Kapitän hatte sich sowieso übers Ohr hauen lassen. Der Diamant war über vierhundert Karat schwer, und Jamchund, der indische Diamantenhändler, dem er ihn verkauft hatte, machte das Geschäft seines Lebens damit. Er verkaufte ihn nämlich für hunderttausend Dollar an den britischen Gouverneur von Madras. Und der schickte ihn nach England, um ihn schleifen zu lassen.«
Sie liefen jetzt wieder im Takt. Gleichmäßig schwangen sie hin und her. Das scharfe Schleifen der Kufen auf dem Eis hörte sich gut an. Paul erwärmte sich immer mehr für seine Geschichte. Das war es, was ihn faszinierte, dachte Lilli, darüber konnte er alles vergessen.
»Vierhundert Karat«, sagte er, »und Longe und Steele haben den Hauptstein auf 100 Karat heruntergeschliffen. Es hat ein Vermögen gekostet, und es hat zwei Jahre gedauert, aber die Nebensteine haben schon doppelt so viel eingebracht, wie er gekostet hat.«
Paul hatte den Handschuh ausgezogen. Seine Hand streifte ihre Hüfte.
»Die kleinen Steine hat Peter der Große gekauft. Aber der Regent selbst ist zu einem Kissen geschliffen worden, und er hatte so eine Strahlkraft, dass ihn damals schon alle als den schönsten Diamanten der Welt betrachtet haben. Und damit du weißt, was wir Diamantenschleifer aus einem Stein machen …«, er hielt kurz inne, sah Lilli streng an und gab den Oberlehrer. »Für wie viel ist der Rohstein verkauft worden?«
Lilli meldete sich artig, aber sie musste dabei lachen. Auch Wilhelm lächelte jetzt.
»Für hunderttausend, Herr Professor!«
»Sehr gut! Setzen!«
Aus einem Impuls heraus ließ Lilli sich tatsächlich mitten aus dem Lauf heraus fallen, riss die beiden anderen mit sich, war wieder auf, bevor die anderen sich erneut gesammelt hatten, lief die ersten paar Meter auf den Spitzen der Schlittschuhe und jagte den beiden davon. Die nahmen die Verfolgung auf, zischten hinter ihr her, lachend, auf einmal wieder wie Kinder, holten sie ein, nahmen sie in die Zange, und dann flogen sie atemlos schlitternd und eissprühend dahin, bis Wilhelm Lilli einen kleinen Triller gab und sie noch einmal lachend stürzte.
»Genug!«, schrie sie dann, und alle drei glitten an den Rand der Fläche zu den Holzbalustraden. Sie stützten die Ellenbogen auf und blinzelten in die Sonne. Paul zeigte auf das Gefunkel in den Bäumen, die direkt neben dem Bahnhof standen.
»Weißt du, warum die dort Diamantenbäume sind und die anderen nicht?«
Lilli schüttelte den Kopf.
»Weil der Dampf aus den wartenden Lokomotiven sich in ihnen niederschlägt und sie kristallisieren lässt«, sagte Paul lächelnd und fuhr übergangslos fort:
»Der Herzog von Orleans hat dann den Diamanten gekauft, und weil er Regent von Frankreich war, hat er ihn Regent genannt. Sechshundertfünfzigtausend Dollar hat er für ein Viertel des Gewichts bezahlt, den der Rohstein hatte. Das wären heute fast zwei Millionen Goldmark. Und das alles für den Schliff. Es war ein Künstler, der den Stein so geschliffen hat. Später hat ihn Marie Antoinette getragen – wie den Blue Hope – und er hat ihr ebenfalls kein Glück gebracht. In der Revolution ist er verschwunden, wie alle anderen Juwelen, aber durch Zufall hat ihn viel später ein Dienstmädchen im Dachgebälk eines Pariser Hauses gefunden. Einer der Revolutionäre hatte ihn dort in einem Astloch versteckt.«
»Vielleicht sollten wir zu Hause auch mal auf dem Dachboden nachsehen«, sagte Lilli versonnen.
»Hab ich schon«, grinste Wilhelm, »nichts gefunden. Weißt du noch, unsere Schatzsuche im Garten?«
Paul grinste verschwörerisch zurück. Lilli hatte plötzlich ein schmerzlich wehmütiges Gefühl, als ob hier und heute ihre gemeinsame Jugend zu Ende ging, als ob es ein letztes Mal wäre, an dem sie sich wortlos verstanden, als ob es ein letztes Mal wäre, an dem sie noch einmal die kleinen Abenteuer der gemeinsamen Kindheit beschworen. Paul schien dasselbe zu spüren. Leise erzählte er die Geschichte weiter, wie ein Märchen.
»Nach der Revolution hat ihn Napoleon in den Griff seines Schwertes einsetzen lassen. Und als er ins Exil musste, hat ihn seine Frau Marie Louise in ihre Heimat Österreich mitgenommen. Aber ihr Vater, Franz I., hat ihn den Franzosen zurückgegeben. Seitdem gehört er wieder zu den französischen Kronjuwelen. Napoleon III. ließ ihn für die Kaiserin Eugenie in ein Diadem fassen. Der schönste Diamant der Welt ist heute im Louvre zu sehen.«
Lilli drückte kurz Pauls
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