Das Disney World Komplott
gehabt hatte, quälte er sich, statt sich von Erinnerungsbildern martern zu lassen, mit den Worten in seinem Notizbuch. Sein Geist war völlig ausgelaugt. Er brachte keinen vernünftigen Satz zustande.
Darum schrieb er zum ersten Mal seit langem wieder ein Gedicht. Das Verseschreiben hatte ihm als Kind geholfen, seine Verbitterung und seinen Zorn zu verarbeiten, nachdem ihm deutlich geworden war, wie sehr er sich von seinen Altersgenossen unterschied. Gedichte boten ihm eine Möglichkeit der Problemlösung, denn beim Dichten durchschaute er die Natur seiner Schwierigkeiten und zudem sich selbst.
Er hatte kein einziges der Gedichte weggeworfen, sondern irgendwann eine Sammlung seiner Werke auf Diskette gespeichert. Nach seinem Empfinden waren sie dort gut aufgehoben.
Plötzlich hatte Josh sich darauf besonnen, wie es gewesen war, drei Jahre alt zu sein, dann vier, fünf und so weiter. Das Dichten weckte seine Erinnerungen. Sein früherer Zorn war verschwunden. Das Bekenntnis zu sich selbst und zu dem, was er war, hatte ihn verdrängt. Doch auch die aufs Blatt gekritzelten Verse bedeuteten diesmal nur Papierverschwendung. Sie funktionierten nicht mehr.
Die Maschine ging in gleichmäßigen Flug über, und Josh entspannte sich ein wenig. Die Fette auf dem Nebensitz hatte sich in ein Kreuzworträtsel verbissen, erzielte aber nur minimale Fortschritte. Joshua schielte auf die Stichwörter zwischen den Kästchen und löste das ganze Rätsel in nicht einmal einer Minute.
Er strich sich mit der Hand durch das lange, braune Haar und schaute wieder in sein Notizbuch. Vielleicht hatte man den verlorenen Rucksack schon vernichtet, in der Annahme, er gehöre einem der Opfer oder einem der späteren Augenzeugen, der ihn nicht zurückforderte. Irgendwie störte ihn die Furcht vor Entdeckung nicht, denn sie überlagerte das Gefühl der Schuld. Mit Furcht konnte er leben. Furcht gab ihm das Gefühl, ein Opfer zu sein, ein Verfolgter, Gehetzter. Die Schuld dagegen erinnerte ihn daran, daß er Opfer – und zwar zu Hunderten – auf sein Gewissen geladen hatte, ehe er selbst zum Opfer geworden war. Er verdiente, was mit ihm geschah, egal was noch kommen mochte; denn er war …
Na los, sag es! Denk es zu Ende!
Ein Mörder war er. Er konnte sich der Polizei stellen und ein Geständnis ablegen. Was könnte man schon mit ihm machen? Josh war kein Rechtsexperte, obwohl er sich, wie mit allem, auch mit juristischen Fragen beschäftigt hatte. Man müßte ihm, soviel wußte er, ein Motiv nachweisen. Ohne bewiesenen Vorsatz mußte man ihm mildernde Umstände zubilligen, eventuell sogar Bewährung. Seine eigentliche Strafe wäre etwas ganz anderes. Schande.
Könnte er irgendwem das Wunderbare an seinem Versuch vermitteln, die Bedeutsamkeit, die dahintersteckte? Könnte er irgend jemandem einsichtig machen, wie exakt seine umfangreichen Untersuchungen waren, die die unerfreulichen Zustände auf der Welt nach der nächsten Generation schilderten, die Verhältnisse, die unabwendbar eintreten mußten, wenn man nichts tat, um die Qualität der Luft zu verbessern? Würde man ihm glauben, daß er jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen hatte, bevor er CLAIR in der Citypassage von Cambridge erprobte?
»Aber warum, Mr. Wolfe, haben Sie eine derartig hohe Verantwortung auf sich geladen?«
»Weil … weil …«
»Bitte sprechen Sie, Mr. Wolfe. Das Gericht ist gespannt auf Ihre Antwort.«
»Eigentlich, weil ich schon immer gerne …«
»WAS, Mr. Wolfe?«
»Weil ich schon immer gern anerkannt werden wollte.«
Josh müßte ihnen zu erklären versuchen, wie es sein Leben lang gewesen war; wie er sich schon immer fehl am Platz gefühlt hatte. Wie er von fünf oder sechs Jahre älteren Kindern angestarrt worden war, während er in ihrer Klasse vorn in der ersten Reihe saß, damit sie ihm nicht die Sicht versperrten. Ein Erfolg in der Citypassage hätte alles geändert. Er wäre als Held gefeiert und seine Formel als eine der größten wissenschaftlichen Entdeckungen aller Zeiten gerühmt worden.
Nun mußte er damit rechnen, von allen Seiten als Mörder geschmäht zu werden, ausgenommen natürlich von Harry Lime. Harry verstand ihn; Harry würde ihm helfen.
Aber Harry ging nicht mehr ans Telefon. Vielleicht war er gar nicht mehr in der Wohnung in Key West, in der er untergebracht worden war, nachdem man Josh das letzte Mal geholt hatte. An sich sollte Josh nicht erfahren, was mit Harry geschah, aber er hatte schon vor Monaten die
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