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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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gemeldet, nachdem Leyendeckers Schicksal von der Presse in allen erdenklichen Schattierungen ausgemalt worden war und weil sie einer Freundin von dem Rendezvous erzählt hatte, die sie dazu drängte, bei der Polizei anzurufen.
    Das Treffen war in gegenseitigem Desinteresse geendet. Sie hatte sich ein paar Jahre jünger und ein paar Kilo leichter geschummelt. Er hatte ein Foto aus der Zeit verwendet, als man noch Passbilder auf Führerscheine klebte. Sie gab an, dass Leyendecker wohl nicht auf die inneren Werte geachtet habe.
    Jeremy hatte ein Foto des Toten gesehen – glücklicherweise noch zu dessen Lebzeiten aufgenommen. Er fand, dass Leyendecker ganz enorme innere Werte aufweisen müsste, um die eigenen Defizite auszugleichen. Eins zweiundsiebzig groß, 88 Kilo. Kräftiges, wahrscheinlich rundgetrunkenes Gesicht mit herrischem Blick. Vorgerecktes Kinn mit Kerbe, weiche, leicht hängende Wangen, mit Pomade über die Stirn geklebtes Resthaar. Ein Mann auf dem Weg zum Opa, ohne liebenswürdige Züge. Vermisst hatten ihn nicht seine Kinder oder seine geschiedenen Frauen, vermisst hatte ihn das Hotel.
    In seinem Zimmer fand man die abgerissene Karte eines Kinos am Alexanderplatz. Seine Kreditkartenrechnung wies den Besuch in einer Table Dance Bar aus. Er hatte ein Doppelzimmer gebucht, wohl in der Hoffnung, es auch zu benutzen, sich dann aber gegen den Besuch einer Prostituierten entschieden. Er hatte auch nach keiner gefragt, erinnerte sich der Nachtportier. Leyendecker war am Vorabend seines Todes kurz vor Mitternacht ins Hotel zurückgekommen. Leicht angetrunken, aber nicht so, dass es anderen Gästen unangenehm aufgefallen wäre. Er war an einem Ständer stehen geblieben, in dem Prospekte verschiedener Berliner Sehenswürdigkeiten steckten. Im Papierkorb fand die Spurensicherung später bunt bedruckte Werbung von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, einer völlig überteuerten Dinnershow mit Kabaretteinlagen, den Berliner Unterwelten und dem Kennedy Museum am Pariser Platz.
    Keine dieser Lokalitäten hatte er aufgesucht. Er war in den Tierpark gegangen. Das musste kurz nach dem Frühstück gewesen sein, aber wann genau, daran konnte sich die Hotelangestellte, die die Zimmernummern im Restaurant prüfte, nicht mehr erinnern. Das letzte Lebenszeichen von Werner Leyendecker kam von seinem Handy, das mitsamt seiner Kleidung spurlos verschwunden war. Der Telefonanbieter bestätigte, dass Leyendecker sich gegen fünfzehn Uhr zweiundzwanzig ein letztes Mal im Tierpark eingeloggt hatte. Er hatte die Fahrplanauskunft der Bahn angerufen.
    Jeremy vermutete, dass Leyendecker früher zurückfahren wollte. Der Ausflug nach Berlin hatte die Erwartungen nicht erfüllt. Leyendecker wusste offenbar nichts mehr mit seiner Zeit anzufangen. Sein Todeszeitpunkt lag erst weit nach Mitternacht des folgenden Tages, zwischen zwei und drei Uhr morgens. Das Verbrechen war wie folgt rekonstruiert worden: Rubin hatte Leyendecker aufgelauert, nachdem er die Cafeteria aufgesucht hatte (Quittung über ein kleines Bier, eine Bockwurst, fünfzehn Uhr vierzehn), war ihm bis zu den Raubtieren gefolgt und hatte ihn hinter dem Alfred-Brehm-Haus niedergeschlagen. Ihn abgelegt im Gebüsch zwischen Pinguinen und Präriehunden. Vermutlich war er zu diesem Zeitpunkt auch schon sediert, also ruhiggestellt worden. Abtransportiert wurde er mit einem dieser Elektrowagen, die Futter und Heu zu den einzelnen Gehegen lieferten, und an dem neben den Fingerabdrücken sämtlicher Tierpfleger auch die von Rubin sichergestellt worden waren. Die Zeit bis kurz vor seinem Tod verbrachte er, gefesselt und gelähmt, in der Tierklinik, einem flachen Klinkerbau aus den fünfziger Jahren hinten im Wirtschaftshof.
    Mitten in der Nacht brachte Charlotte Rubin den schweren Mann zum Pekari-Gehege. Nachdem die Tiere ihr unfassbares Werk vollbracht hatten, musste sie gegen vier Uhr morgens, eine gute Stunde vor Sonnenaufgang, noch einmal zurückgekehrt sein, um die Reste Leyendeckers einzusammeln. Ganz war ihr das nicht gelungen. Vielleicht wegen der Dunkelheit, vielleicht auch, weil die Tiere zu gefährlich waren. Die Leichenteile entsorgte sie in der Knochentonne. Sie hatte sie vorher entleert und anschließend die übelriechenden, halb verwesten und nicht mehr weiter verwendbaren Futterreste über Leyendeckers Rumpf und Oberschenkel ausgekippt. Beides hatte sie auch noch voneinander getrennt, vermutlich, um die Leichenreste überhaupt in die Tonne zu bekommen. Leyendeckers DNA

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