Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
Vom Netzwerk:
fand man so gut wie überall in der Klinik – am meisten an der Knochensäge.
    Mittlerweile konnte Jeremy den Tathergang lesen, ohne dass ihm schlecht dabei wurde. Aber es gelang ihm nicht, sich den ganzen Ablauf vorzustellen. Er wollte nicht daran denken, wie diese Frau im Morgengrauen mit einer zerfetzten Leiche über die Tierparkwege gefahren war. Seine Vorstellungskraft setzte erst in dem Moment wieder ein, in dem Charlotte Rubin das kleine Haus hinter der Klinik auf dem Tierparkgelände betreten haben musste, keine hundert Meter entfernt von den sterblichen Überresten ihres Opfers, dort geduscht ( DNA von Leyendecker im Bad, Blutspuren an einem gewaschenen Overall) und sich hingelegt hatte, um gegen acht Uhr morgens ihren Dienst wieder anzutreten.
    Werner Leyendecker wurde erst gegen Mittag vom Park Inn Hotel als vermisst gemeldet, weil er nicht ausgecheckt und seine Rechnung nicht bezahlt hatte. Ein Mitarbeiter des Hauses war in sein Zimmer gegangen und hatte festgestellt, dass Leyendecker zwar verschwunden war, nicht aber sein Gepäck. Das Bett war unberührt gewesen.
    Jeremy sah von den Aufzeichnungen hoch. Rubin tat weiter so, als ob sie alle chinesisch reden würden und der Dolmetscher sich auf unbestimmte Zeit entschuldigt hätte.
    »Was fühlten Sie, als Sie Werner Leyendecker zum ersten Mal sahen?«
    Keine Antwort. Er merkte, wie Brock hinter seinen Stuhl trat. Der Mann in seinem Rücken erschien ihm wie eine sichere Wand, an die er sich lehnen konnte.
    »Kommen wir noch einmal zu der Frage, ob Sie sich zufällig begegnet sind oder ob Herr Leyendecker von Ihnen ganz bewusst ausgewählt wurde.«
    Keine Reaktion.
    Jeremy nahm das Foto Leyendeckers aus der Akte. Es war nur eine Kopie, eine grobkörnige Vergrößerung, aber es war auch die Erinnerung an einen Menschen, dessen Leben Rubin auf unvorstellbar grausame Weise ausgelöscht hatte.
    Griff zum Wasserglas. Trinken. Absetzen. Blick auf die Hände.
    »Erinnern Sie sich noch an ihn?«
    Vielleicht half Brock ja auch dieses Schweigen, die Wahrheit über sie herauszufinden. Für den Professor war nicht nur wichtig, wie etwas gesagt oder verschwiegen wurde. Auch die Körpersprache und die Reaktion auf bestimmte Fragen gaben Auskunft über einen Menschen. Jeremy unterdrückte ein Seufzen. Kooperativ sah jedenfalls anders aus.
    »Ist es wegen gestern?«, fragte er. Der Vormittag verstrich. Sie hatten nur diese drei Tage. Mit viel gutem Willen konnte man vielleicht noch einen vierten herausschlagen. Brock arbeitete schon daran.
    »Haben wir etwas falsch gemacht?«
    Stille. Er hörte das elektrisch aufgeladene Reiben ihres Hosenstoffes, als sie die Beine in die andere Richtung kreuzte.
    »Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen. Ich wollte Sie wegen Ihrer Schwester nicht aufregen.«
    Jeremy spürte geradezu, wie sich hinter seinem Rücken, dort, wo Brock stand, ein riesiges Fragezeichen im Raum materialisierte.
    Rubin sah ihn an. Wieder war es so, als ob er einen leichten Schlag vor die Brust bekommen hätte. Ihre Reaktionen waren so unvorhersehbar. Im einen Moment wirkte sie, als ob sie gleich einschlafen würde auf ihrem Stuhl. Und im nächsten erwachte ihr Interesse. Noch war kein Muster zu erkennen. Nichts, was ihre Reaktionen verständlich oder durchschaubar machte. Sie brauchten Zeit, viel mehr Zeit. Einen Durchbruch, eine Hilfestellung, etwas, das dieses Bollwerk von Willen durchbrechen konnte.
    »Wir haben es Ihnen ganz am Anfang doch schon erklärt. Alles, was wir hier besprechen, dient ausschließlich der Erstellung des Gutachtens. Sie werden von uns weder vernommen, noch kann irgendetwas, das Sie in diesen vier Wänden sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Wir wollen nur herausfinden, wie Sie ticken. Und manchmal hilft da eben auch der Blick von außen.«
    »Kann ich bitte zurück?«
    »Wir sind noch nicht fertig.«
    »Oh doch. Es gibt nichts mehr, was ich zu sagen hätte. Da steht doch sowieso schon alles drin.« Sie deutete auf die Akte der Staatsanwaltschaft. »Schreiben Sie doch über mich, was Sie wollen. Ich will in meine Zelle. Jetzt.«
    Sie stand auf. Verwirrt erhob Jeremy sich ebenfalls.
    »Es ist doch nur in Ihrem Interesse.«
    »Nichts in meinem Leben war das bisher. Also hören Sie auf, hier den Samariter zu spielen. – Und Sie auch!«
    Brock schürzte die Lippen, was ein bedauerndes Lächeln abgeben sollte. Er ging zur Tür, um sie zu öffnen. Hoffentlich erstellt er nicht gerade sein eigenes Gutachten über mich, dachte

Weitere Kostenlose Bücher