Das Dorf der Mörder
einer Angeklagten, die den Urteilsspruch erwartete. Sie musste unter einer großen Anspannung stehen. Jeremy trat zu ihr und rechnete damit, sofort von ihr weggebissen zu werden. Aber sie ließ es geschehen. Sie reagierte noch nicht einmal, als er sanft seinen Arm um ihre Schulter legte. Sie starrte auf die Tür, die Brock halb hinter sich zugezogen hatte, als warte sie auf das hohe Gericht.
Die Tür wurde aufgestoßen. Der ohne Namen versuchte, Charlotte Rubin den Weg zu verstellen – vergeblich. Sie stieß ihn zur Seite. Ihr grobes Gesicht war wutverzerrt.
»Du? Ich glaub es nicht. Wie kommst du hierher?«
Jeremy spürte, wie Cara sich versteifte.
»Was willst du?«
Brock tauchte auf. Er ließ Charlie nicht aus den Augen. Miesdrosny ging neben ihr in Stellung.
»Charlie«, wisperte Cara. Sie räusperte sich. »Charlie.«
»Wird das hier eine Familienaufstellung, oder was? Habt ihr versteckte Kameras aufgebaut? – Ich werde mich über Sie beschweren, Professor Brock. Ich will zurück. Das ist doch Kindergarten hier.«
»Charlie …«
»Sprich mich nicht an! Halt dich raus!«, fauchte Rubin. Sie wandte sich an den Professor. »Habe ich noch Grundrechte, oder muss ich mir alles gefallen lassen? Ich will sie nicht sehen und auch nicht mit ihr reden!«
Cara wollte auf ihre Schwester zugehen, aber Jeremy hielt sie zurück.
»Das bist du nicht«, sagte sie und streifte unwillig seine Hand ab. »Ich bin extra wegen dir aus Dessau gekommen.«
»Dann wirst du auch extra wegen mir wieder zurückfahren. – Können wir?«, fragte Rubin die beiden Vorführbeamten, die ratlos zu Brock sahen. Der Professor stellte sich zwischen die beiden Schwestern.
»Vielleicht beruhigen wir uns erst einmal. Frau Rubin, ich kann Ihnen anbieten, dass wir ein paar Minuten später anfangen und Sie kurz mit Ihrer Schwester reden. Wir wurden von ihr genauso überrascht wie Sie.«
»Ich will nicht mit ihr reden! Hört mir denn keiner zu?«
»Charlie!«
Cara rannte auf sie zu und schlang ihre Arme um sie. Die große, kräftige Frau ließ es einen Moment geschehen, dann stieß sie ihre Schwester zurück, als wäre sie ein Angreifer. Cara taumelte, Jeremy sprang zu Hilfe, die beiden Polizeibeamten blickten nervös auf das Geschehen, Brock wartete einfach nur ab.
»Hau ab! Wann kapierst du es endlich? Ich will nichts mit dir zu tun haben.«
»Aber warum?« Cara weinte fast. »Du hast doch nur noch mich. Ich bin deine Familie.«
»Familie. Oh ja. Weißt du was, Cara-Schätzchen? Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich bin deine Familie. Tu doch nicht so, als ob du nicht wüsstest, was das heißt. Du hast mich doch lange genug aushalten müssen. Geh nach Hause zu deinem lieben Vieh, und hör auf, hier die Heldin zu spielen. Helden haben hier nichts verloren.«
Cara drückte sich den Knöchel ihrer Hand an den Mund. Sie schien kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, aber sie fasste sich noch einmal.
»Hast du es getan?«
Charlie sah sich um. Sie merkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Jeremy spürte das Aufnahmegerät in seiner Tasche. Er fragte sich, was der Professor von dieser Szene halten würde.
»Ja.«
»Sag, dass das nicht wahr ist. Lüg doch nicht schon wieder. Du hast doch immer gelogen!«
»Aber warum sollte ich lügen? Warum sind wir denn alle hier? Sie wollen herausfinden, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Und soll ich dir was sagen? Ich habe mich selten so normal gefühlt wie jetzt.«
Caras Blick suchte Jeremy. Er nickte ihr kaum merklich zu und hoffte, dass sie seine Aufforderung verstanden hatte – und ihr auch nachkommen würde. Rubin brachte selbst die Sprache auf ihre Tat. Ein Durchbruch schien zum Greifen nah.
»Warum redest du nicht mit ihnen? Was ist passiert?«
»Das geht dich nichts an. Hier wollen mich doch sowieso nur alle in die Pfanne hauen.«
»Keiner tut das! Herr Saaler ist sogar extra zu mir gekommen, um mehr über dich zu erfahren.«
»Und?«, fragte Charlie gefährlich freundlich. »Hat er das?«
»Ich werde alles tun, um dir zu helfen. Alles, verstehst du? Sie wollen wissen, wie du tickst. Ich weiß es nicht. Aber du bist keine Mörderin.«
Charlie gab für einen Moment ihre aggressive Haltung auf. Ihre Stimme wurde leiser. Die Schultern unter dem schlecht sitzenden Anzug fielen herab. Sie wies auf die vier Männer um sie herum, die sie mit Argusaugen beobachteten.
»Du kommst dagegen nicht an. Ich bin vielleicht nicht ganz richtig im Kopf. Weißt du, was mich wirklich
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