Das Dornenhaus
nicht nur an der fehlenden Brille …«
John zuckte mit den Schultern. »Na ja, ich dachte, ich rasiere mich wohl besser …«
»Der Anzug. Du siehst … nun, er steht dir.«
»Danke«, sagte John.
Ich ließ mir von ihm auf den Barhocker neben seinem helfen. Am liebsten hätte ich ihn unentwegt betrachtet, um herauszufinden, warum er an diesem Abend so anders wirkte, aber ich wollte nicht, dass er es bemerkte. Ich musste mein Bild von John überdenken. Alles, was ich zuvor gedacht hatte – dass Charlotte in einer ganz anderen Liga spielte als er, mein Unverständnis darüber, wie sich die beiden hatten ineinander verlieben können –, all das traf plötzlich nicht mehr zu. Dass John ein liebenswürdiger Mensch war, hatte ich schon immer gewusst, aber abgesehen davon war er in meinen Augen ein etwas ungepflegt wirkender Akademiker und Pechvogel mit zerzaustem Haar und ausgeleierter Brille. Einen Augenblick lang fragte ich mich, wie er wohl als Student ausgesehen hatte, jung und groß und langgliedrig. Ich wünschte, ich hätte ihn schon damals gekannt. Bevor er Charlotte begegnete.
Ich riss mich zusammen. »Ich glaube, ich habe dich noch nie in einem gebügelten Hemd gesehen«, sagte ich. »Nimm es mir nicht übel.«
Er lachte. »Bestimmt nicht. Und ich glaube, ich habe dich noch nie in einem Kleid gesehen. Du siehst sehr hübsch aus, Hannah. Ich habe dir einen Kir Royal bestellt, ziemlich anmaßend, ich weiß. Ich hoffe, du magst ihn als Aperitif.«
»O ja.«
Ich mochte Kir Royal in der Tat, wäre aber nie auf die Idee gekommen, mir einen zu bestellen.
»Hast du schon entschieden, was du morgen früh gern tun würdest?«, fragte John.
Ich nippte an meinem Drink. »Ich würde gern nach Magdeburg fahren.«
John zog die Augenbrauen hoch.
»Eine Freundin von mir, Ellen, du weißt schon, die, die gestorben ist, hat dort eine Zeit lang gelebt. Ich habe nicht gewusst, wie nah die Stadt an Berlin liegt.«
»Ja, es ist nicht besonders weit. Magdeburg ist aber ziemlich groß.«
»Ich weiß. Aber sie – Ellens Familie – hat in einem riesigen Anwesen oberhalb des Flusses gewohnt. Schloss Marienburg. Ich denke, es dürfte nicht schwer sein, es zu finden. Ich würde es einfach gern sehen. Nun, da ich schon mal in der Nähe bin …«
»Diese Gelegenheit solltest du dir nicht entgehen lassen«, stimmte John mir zu. »Wie willst du dort hinkommen?«
»Ich weiß noch nicht; ich muss mich erst noch schlaumachen.«
John nahm eine kleine Salzbrezel aus dem Glasschälchen auf dem Tresen und warf einen Blick auf seine Uhr.
»Wenn wir zurückkommen, können wir auf meinem Laptop nachsehen, wo sich das Schloss befindet, und herausfinden, ob es eine Busverbindung gibt.«
»Großartige Idee.«
Johns Handy piepte. Er fischte es aus seiner Jacketttasche, warf einen Blick auf das Display und lächelte.
Er hielt mir das Handy hielt. Charlotte hatte ein Foto von ihren beiden Töchtern geschickt, die in ihren Pyjamas steckten und in die Kamera lächelten. Die Nachricht lautete: Gute Nacht, Daddy.
»Süß«, sagte ich.
»Sorry.« Er verstaute das Handy wieder in der Jackentasche. »Als ich noch keine Kinder hatte, haben mich Leute, die ständig von ihrem Nachwuchs geredet haben, mächtig genervt. Aber Charlotte weiß, wie sehr es mich freut, vor dem Schlafengehen von den Mädchen zu hören.«
»Ihr habt wirklich zwei sehr hübsche Mädchen«, sagte ich und spürte dabei einen Knoten im Bauch.
Wir leerten unsere Drinks und gingen hinaus, um ein Taxi heranzuwinken. Es herrschte noch reger Verkehr. Busse, Autos und Taxis rauschten vorbei. Hie und da wurde gehupt. Die Luft war noch mild, aber ich behielt die Jacke dennoch über den Schultern. Mit Make-up und den High Heels fühlte ich mich befangen. Die Leute in den vorbeifahrenden Wagen drehten flüchtig die Köpfe nach John und mir in unserer formellen Garderobe um. Wann immer ein Taxi in Sicht war, winkte John, aber alle waren besetzt und fuhren, eine Abgaswolke hinter sich herziehend, vorbei. Ich blickte auf meine Füße, die mir in den Riemchensandaletten merkwürdig nackt vorkamen. Plötzlich schob sich ein Bild aus meiner Erinnerung vor mein geistiges Auge: wie ich auf Ellens Bett saß und mich auf die nach hinten ausgestreckten Hände stützte, während Ellen im Schneidersitz meinen Fuß im Schoß hielt und meine Zehennägel lackierte. Wie Ellens dunkles Haar ihr vors Gesicht fiel und sie es wieder hinters Ohr strich. Ich erinnerte mich an ihre Sanftheit und die
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