Das Dornenhaus
schöne Frau und ich müssen einen Tisch weiter. Zu Misty und ihrem Freund, mit denen wir uns über Popkultur und Straßenkunst unterhalten werden. Bis später, Hannah.«
Während sie sich entfernten, blickte Charlotte über die Schulter zurück. »Danke«, sagte sie leise. Sie biss sich auf die Lippe. »Tut mir leid …«, fügte sie hinzu, aber ich hatte bereits das Gesicht abgewandt, bevor sie ihren Satz beenden konnte.
ZWEIUNDVIERZIG
D ie letzte Prüfung war die schlimmste. Ich mühte mich ab, die für die Antworten vorgesehenen weißen Stellen auf den Prüfungsbögen auszufüllen. Bereits fünfundvierzig Minuten vor dem Ende der Klausur gab ich auf und vertrieb mir die restliche Zeit mit Strichmännchenmalen. Als die Aufsicht schließlich sagte: »Legen Sie jetzt bitte Ihre Stifte beiseite!«, sprang ich vom Stuhl auf, packte meine Schultasche und ging in den Waschraum, um mir die Hände zu waschen. Währenddessen hörte ich einer Unterhaltung zwischen zwei Klassenkameradinnen zu, der ich entnahm, dass ich eine der Fragen offenbar völlig falsch verstanden hatte. Mein letzter Rest Hoffnung, doch noch einen Studienplatz an einer renommierten Universität zu ergattern, schwand dahin.
In Selbstmitleid versunken, ging ich die High Street entlang und kaufte mir in einem Getränkeladen einen Viererpack Cidre und eine Viertelliterflasche Gin. Gerade noch rechtzeitig erwischte ich den Bus, aber statt an der Kreuzung von Trethene auszusteigen, blieb ich sitzen und fuhr bis zur letzten Haltestelle im Ort hinter der Tankstelle, wo ich als Letzte aus dem Bus stieg. Die schwere Tüte mit den Spirituosen in der Hand trottete ich bis zur Kirche zurück, überquerte den Friedhof und ging durch das Tor auf der anderen Seite wieder hinaus, um mich auf die Bank zu setzen, neben der Stelle, wo sich Ellen und Jago zum ersten Mal geliebt hatten. Dann öffnete ich die erste Dose Cidre.
Als die Sonne unterging, legte ich mich auf die Bank. ließ die Beine über der Armlehne hängen und sah zu, wie sich der Himmel verfärbte. Wie die untergehende Sonne die Unterseiten der Wolken anstrahlte, deren Farbe von Weiß zu Gelb und Apricot, dann zu Orange, Gold, Rosa und Lila wechselte, bevor schließlich sämtliche Farben am Himmel verblassten. Dann setzte ich mich wieder auf und verfolgte, wie in der Ferne ein Traktor auf einem Getreidefeld Furchen zog, während der Tag über dem Meer erlosch, wie die auf der Weide grasenden Kühe immer wieder mit dem Schwanz schlugen, um die Fliegen zu verjagen, wie ihre Schatten immer länger wurden, bis sie mit den Schatten der Hecken verschmolzen und schließlich gänzlich in der Dunkelheit verschwanden. Ich spürte eine große emotionale Verbundenheit mit dem Leben und fühlte mich gleichzeitig so einsam wie der Mond. Ich trank alle vier Cidredosen aus, pinkelte hinter einem Strauch, was gar nicht so einfach war, da ich mit dem Gleichgewicht kämpfte, hatte eine Schluckaufattacke, die ich durch ein paar kräftige Schlucke Gin niederrang, und schlief dann mit dem Kopf auf meiner Schultasche ein.
Irgendwann wurde ich von Jago geweckt. Er hatte mit seinem Escort, dessen Instandsetzung nach vielen Jahren doch noch geglückt war, den ganzen Ort nach mir abgesucht. Er half mir, von der Bank aufzustehen, hielt mir das Haar aus dem Gesicht, während ich mich an einer Hecke übergab, und legte den Arm um mich, um mich zu stützen, während wir über den Kirchhof zur Straße gingen, wo sein Wagen stand.
»Ich hab dich ganz arg lieb, wirklich«, sagte ich und hielt mich an seiner Taille fest. Die Nacht war von dieser tiefen Schwärze, wie es sie nur in Cornwall gab.
»Danke«, sagte Jago.
»Und ich will nicht, dass du dich nachts wieder heimlich aus dem Haus schleichst, wenn Ellen zurück ist.«
Ich war stolz auf diesen Satz, hielt ihn für eine bedeutende Feststellung, die bewies, was für ein fürsorglicher und einfühlsamer Mensch ich doch war. Plötzlich begann ich laut und voller Selbstmitleid zu schluchzen, wie es nur ein betrunkener junger Mensch an der Schwelle des Erwachsenwerdens vermag.
»Sei still«, sagte Jago. »Es wird sowieso kein Herumschleichen mehr geben, weil ich nämlich mit Ellen von hier weggehe.«
»Wohin denn?«
»Nach Amerika.«
»Amerika!« Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Amerika ist zu weit weg. Was wird dann aus mir?«
»Du wirst schon zurechtkommen.«
»Nein, das werde ich nicht! Wie könnt ihr denn nach Amerika gehen? Wovon wollt ihr leben?«
»Sobald
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