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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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Schuhe aus und wateten ins Wasser. Als es meine Waden erreichte, blieb ich stehen, um mich an die Kälte zu gewöhnen. Ellen ging weiter, und erst als sich der Saum ihres Rocks dunkel verfärbte, hielt sie inne und blickte zum Horizont. Sofort rührte sich wieder dieses beklemmende Gefühl in meiner Magengegend. Es war die gleiche böse Vorahnung wie kurz zuvor an Ellens Haustür. Ich verscheuchte die vage Angst, indem ich mit dem Fuß ins Wasser trat und Ellen nass spritzte. Wie ein Filmstar aus früheren Zeiten hob sie die Hände an die Seiten ihres Kopfes, schrie theatralisch und drehte sich zu mir um, um mich ebenfalls mit dem Fuß nass zu spritzen. Ausgelassen wie Kinder lieferten wir uns eine Wasserschlacht. Wir lachten und kreischten und hatten jede Menge Spaß. Als wir beide klitschnass waren, kehrten wir an den trockenen Strand zurück, zogen uns bis auf die Unterwäsche aus und breiteten unsere Sachen auf den Felsen zum Trocknen aus. Ellens Wimperntusche war verlaufen. Sie saß im Kniesitz im Sand, die Hände im Schoß, und hielt mir wie ein kleines Kind das Gesicht hin, damit ich mit dem Zipfel meines T-Shirts die dunklen Spuren von ihren Wangen entfernen konnte. Ihre Haut schimmerte in der Sonne. Sie hatte eine leichte Gänsehaut, und an den Wurzeln ihrer Armhärchen hatten sich winzige weiße Salzkristalle gebildet.
    »Warum bist du im Gesicht so blass, wo deine Arme und Beine doch so braun sind?«, fragte ich.
    Ellen zuckte mit den Achseln und meinte: »Oma hat darauf bestanden, dass ich einen Strohhut trage, um mir meine vornehme Blässe zu erhalten.«
    Etwas an Ellen hatte sich verändert. Ich kam aber nicht darauf, was es war. Ich hatte erwartet, dass sie womöglich noch unter den Nachwirkungen des tragischen Erlebnisses litt, aber sie schien allenfalls ruhiger geworden zu sein. Sie verbreitete nicht mehr diese nervöse Unruhe, wirkte passiver. Die bei der Familie ihres Vaters verlebten Wochen schienen ihr gutgetan zu haben.
    Wir dösten nebeneinander im Sand, bis die Sonne hinter den Klippen verschwand und lange Schatten über den Sand krochen, während sich am Himmel rosa geriffelte Wolken bildeten.
    »Meinst du nicht, dass sich dein Vater Sorgen machen wird, wenn du so lange wegbleibst?«, fragte ich.
    »Er wird diesmal kein Theater machen. Nicht vor Tante Karla.«
    Ellen stützte sich auf einen Ellbogen, verzog das Gesicht und wedelte mit dem Zeigefinger. Mit tadelnder Stimme sagte sie auf Deutsch: »Um Gottes willen, Peter, das Mädchen ist jetzt fast erwachsen!«
    Ich kicherte. »Was heißt das?«
    Sie übersetzte es für mich. »Meine Tante ist wirklich sehr nett«, meinte sie und legte sich wieder hin. »In Deutschland sind wir oft im Park spazieren gegangen und haben die Enten am Teich gefüttert. Und wenn es geregnet hat, haben wir zusammen Rolling Stones gehört und ein Kaffeekränzchen abgehalten« – wieder benutzte sie das deutsche Wort –, »das heißt, man plaudert bei Kaffee und Kuchen, aber nur unter Frauen, versteht sich. Sie hat mich dazu gebracht, dass ich ihr alles erzählt habe.«
    »Alles?«
    »Na ja, fast alles. Über Jago habe ich ihr nichts gesagt. Das heißt, ich habe ihr erzählt, dass es da einen Jungen gibt, den ich mag, aber weder wie er heißt, noch wer er ist. Ich habe ihr auch nicht von … du weißt schon, erzählt.«
    Ich nickte.
    »Sie hat Papa ins Gewissen geredet. Ihn zur Vernunft gebracht. Sie wird ihm jedenfalls seine Launen nicht durchgehen lassen. Solange sie bei uns ist, wird sie ihn in Schach halten. Heute Abend werde ich wahrscheinlich Klavier spielen müssen, weil sie es so liebt, aber auch das ist okay für mich, weil sie heitere Sachen mag. Sie hat mir Noten von neuen Stücken gegeben, die ich üben soll. Zu Papa hat sie gesagt, dass all diese Requiems und Klagelieder für ein junges Mädchen viel zu traurig sind!«
    »Hört sich an, als sei sie wirklich sehr nett.«
    »Das ist sie. Du musst uns unbedingt besuchen und sie kennenlernen.«
    Als die Sonne gänzlich verschwunden war, schlüpften wir in unsere feuchten Sachen, die sich auf unserer von der Sonne erhitzten Haut klamm anfühlten. Dann kletterten wir die Stufen in dem Felstunnel hinauf, um nach Trethene zurückzukehren. Es war zu dunkel, um quer über die Wiesen zu laufen, und auf den Landstraßen herrschte noch reger Verkehr. Immer wieder mussten wir uns an eine Hecke drücken, um großen, glänzenden Wagen Platz zu machen, die unter dem Gewicht von Fahrrädern, Surfbrettern und

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