Das Dornenhaus
Fenster und sah hinaus. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, die Bürgersteige waren von Fußgängern bevölkert. Es gefiel mir, die Einzelheiten meiner neuen Umgebung wahrzunehmen: die Straßenschilder mit den deutschen Namen, die zum Teil noch in Frakturschrift geschrieben waren, die Gerüche nach Bratwurst, Zwiebeln und warmem Gebäck, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Sogar die Luft fühlte sich anders an.
Mein Handy piepte, um mir zu signalisieren, dass eine SMS eingegangen war. Sie kam von Rina: Lily geht es gut. Arbeite nicht zu viel.
Ich nahm ein Bad, packte meinen Koffer aus und setzte mich aufs Bett, um das Konferenzprogramm zu studieren. Einige Vorträge klangen interessant. Ich notierte mir die Themen, die Uhrzeit und den Veranstaltungssaal. Auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster lag eine Kunstledermappe mit Faltprospekten und allen möglichen Informationen über Sehenswürdigkeiten und Tipps für touristische Unternehmungen. Ich öffnete sie, sah mir das Faltblatt mit den Bustouren an, las eine kurze historische Beschreibung über das Brandenburger Tor, Schloss Charlottenburg und den Potsdamer Platz. Dann breitete ich die kleine Landkarte auf dem Schreibtisch aus und überflog die Namen von den größeren Städten, die nicht allzu weit entfernt waren, Stettin, Hamburg, Hannover, Leipzig, und notierte mir die Orte, die ich gern besuchen würde. Plötzlich fiel mir ein weiterer Städtename ins Auge: Magdeburg.
Nur ein Wort, und doch weckte es so viele Erinnerungen. Magdeburg, die Heimatstadt der Brechts. In Magdeburg war Ellen geboren, und dort hatte sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbracht. Dort hatte Mrs Todd mit ihr und ihrem Vater Zuflucht gesucht, nachdem dieser Adam Tremlett angegriffen hatte. In Magdeburg hatte sich die Familie Brecht um Ellen gekümmert, aber niemand hatte bemerkt, wie sehr das Erlebnis ihre Psyche belastete.
Mit dem Finger fuhr ich die Linie der A 2 nach, die Berlin mit Magdeburg verband. Die Strecke war nicht besonders lang. Ich faltete die Karte wieder zusammen und steckte sie in meine Handtasche. Dann öffnete ich das Notizbuch, das ich extra für den Aufenthalt in dieser Stadt gekauft hatte. Darin wollte ich alles festhalten, was ich interessant fand, für den Fall, dass ich irgendwann wieder herkommen würde. Einen Moment lang blickte ich unschlüssig auf die leere Seite, ehe ich das Wort Magdeburg notierte und es unterstrich. Dann schrieb ich, auch wenn mir klar war, wie dumm und absurd es war, »Ellen Brecht« in verschnörkelten Großbuchstaben und malte einen Zierrahmen mit Herzen und Blumen darum.
Ellen hatte immer gern im Mittelpunkt gestanden.
Schließlich zog ich mein Cocktailkleid an, das einzige, das ich besaß. Ich hatte es im Vorjahr zur Feier des hundertfünfzigsten Jubiläums des Museums gekauft. Es war altrosa und mir inzwischen ein bisschen zu weit geworden. Ich schob die Träger auf den Schultern zurecht, bis es richtig saß. Jemand wie Charlotte hätte es gewiss als schlicht bezeichnet, aber ich fühlte mich dennoch unwohl darin. Ich war es gewohnt, meine Schultern zu bedecken. Es war schon komisch, dass sich das pummelige Kind, das ich einst gewesen war, in eine so schlanke, knochige Frau verwandelt hatte. Obwohl ich allein im Zimmer war, legte ich mir eine Strickjacke über die Schultern und fühlte mich gleich besser. Dann stellte ich mich vor den Spiegel, legte Lippenstift, Eyeliner und Wimperntusche auf und fasste das Haar mit einer Klammer zusammen. Ich schlüpfte in hochhackige Sandaletten und begab mich dann in der Hoffnung, für den Anlass angemessen, aber nicht zu auffällig gekleidet zu sein, nach unten.
John war bereits in der Bar, aber ich erkannte ihn nicht sofort.
Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen; er war lang und schmal und geschmackvoll in rötlichen Brauntönen und Gold gehalten. Es waren nur einige Geschäftsleute und einzelne Paare da; eine sehr hübsche junge Frau saß allein an einem Tisch, und am Tresen saß ein attraktiver Mann mit langen Beinen in einem dunklen Anzug mit weißem Hemd, der ein Bier trank und Zeitung las. Er drehte sich zu mir um und lächelte. Ich wandte den Blick ab, stutzte, sah wieder hin.
»John?«
Er glitt vom Barhocker, ergriff meine Hand und beugte sich zu mir, um mich auf die Wange zu küssen.
»Ohne deine Brille hätte ich dich fast nicht erkannt«, sagte ich. »Du siehst so …«
»… gut aus?«
»Gepflegt. Ich wollte gepflegt sagen. Aber es liegt
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