Das Dornenhaus
Konzentriertheit, mit der sie behutsam eine Linie nach der anderen auf jeden einzelnen Nagel pinselte, daran, wie kühl sich die Pinselstriche auf den Zehennägeln anfühlten, und an den süßen chemischen Geruch des Nagellacks. Ein Anflug von Trauer und Wehmut überkam mich.
Ich sah wieder hoch, ließ den Blick über die verkehrsreiche Straße schweifen und erblickte sie.
Zum dritten Mal in drei Wochen sah ich Ellen.
VIERUNDVIERZIG
D ad kam in die Küche und sagte: »Die Brechts sind wieder da. Ich hab gerade gesehen, wie Ellen aus einem Taxi gestiegen ist.«
Ich legte die Pastete, die ich gerade zum Mund führen wollte, auf den Teller und starrte ihn an.
»Ellen ist wieder da?«
»Mhm.«
»Ihr Vater auch?«
»Er ist im Taxi sitzen geblieben.«
Ich ignorierte Trixie, die mich hoffnungsvoll anschaute, zog die Turnschuhe an, schnappte mir mein Fahrrad und strampelte die Straße hinauf nach Thornfield House. Die Blumen, die während der Abwesenheit der Brechts erblüht waren, waren noch immer da. Das Fenster von Ellens Zimmer war geöffnet, und laute Rockmusik von Nirwana dröhnte heraus. Es war das erste Mal, dass ich etwas anderes als klassische Musik aus diesem Haus hörte. Ich ließ das Fahrrad auf der Auffahrt liegen, hob einen kleinen Kieselstein auf und warf ihn ans Fenster. Sogleich tauchte Ellens Kopf auf. Sie winkte, verschwand wieder und erschien wenige Augenblicke später in der Haustür und warf sich in meine Arme. Wir wirbelten herum, drückten uns lachend und küssten uns. Ich freute mich wirklich aus tiefstem Herzen, sie wiederzusehen. Mir war, als wäre ich genauso nach Hause gekommen wie sie.
Während wir uns umarmten, fühlte sich alles so vertraut an, ihr fester Körper, ihr Apfelduft, die Glätte ihres Haars an meiner Wange. Meine Liebe zu ihr war in diesem Moment rein und ungetrübt von Eifersucht und Groll. Seit Jahren hatte ich sie nicht mehr so glücklich und gesund und unbekümmert erlebt; seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr. Ich dachte: Von jetzt an wird alles anders. Alles wird gut. Doch im selben Moment durchrieselte eine unbestimmte Angst meine Adern bis in die Fingerspitzen hinein und verursachte mir eine Gänsehaut. Es war eine unbestimmte Vorahnung wie damals, als ich die drei Seemöwen erblickte, die über uns hinwegflogen.
»Ist dein Vater wieder weggefahren? Bist du allein?« Ich trat ein wenig zurück und legte den Arm um Ellen. »Läuft es jetzt besser zwischen euch? Geht es dir gut?«
Ellen lächelte noch immer. Sie warf den Kopf in den Nacken und schüttelte das Haar zurück. Es war länger geworden und glänzte noch mehr. Sie trug ein Jadearmband und neue Sachen – einen kurzen Rock und eine Baumwollbluse mit einem Top darunter. Ihre Haut wirkte gesünder, ihre Wangen waren voller, sie hatte zugenommen, und das stand ihr außerordentlich gut.
»Alles ist okay«, sagte sie. »Meine Großeltern haben mich wie eine Prinzessin behandelt, und Papa hat eine Therapie gemacht.« Sie schielte, hielt den Zeigefinger an die Schläfe und drehte ihn hin und her. »Tante Karla ist mit uns gekommen und wird sich um ihn kümmern. Sie sagt, sie wird aufpassen, dass er nichts anstellt. Sie sind vorhin weggefahren, und ich kann tun und lassen, was ich will. Was wollen wir machen? Vielleicht zu unserem Strand gehen?«
»Hat dein Vater nichts dagegen?«
»Er und Karla sind mit dem Taxi in die Stadt gefahren, um Lebensmittel einzukaufen. Warte kurz …«
»Warte! Was ist, wenn dein Vater …«
»Es ist echt okay.«
Ellen rannte ins Haus, und ich trat in den Schatten der Rosenbüsche an der Mauer, die sich an den Spalieren hochrankten und in voller Blüte standen. Der ganze Garten war voller Blumen; er war zwar verwildert und zugewachsen, sah aber endlich wieder wie ein normaler Garten aus. Ich kaute am Daumennagel. Zwei weiße Schmetterlinge segelten vorbei, und ein Rotkehlchen hüpfte auf dem ehemals gepflegten Rasenstück, wo jetzt lange, dürre, stachelige Grashalme mit Samenköpfen wuchsen. Ich sah zu, wie eine Spinne an einem Faden herunterkrabbelte, der vom Vordach über der Haustür herabhing. Sie war klein, braun und zielbewusst. Ungefähr einen Meter unterhalb des Dachs, wo der Faden aufhörte, hielt sie inne, um ihn weiterzuspinnen.
Draußen von der Straße drang das Geräusch eines Motors an mein Ohr, das sich Thornfield House näherte.
Ich drückte mich dichter an die Mauer, aber dann beschleunigte der Wagen und fuhr vorbei.
Ellen kam mit einer Tasche über der
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