Das Dornenhaus
brachte mich zum Lachen.
»Kann ich es behalten?«, fragte ich. »Als Andenken!«
»Du verrücktes Huhn!«, sagte Ricky, kurbelte das Fenster herunter und schleuderte es mit einer gekonnten Bewegung in den Abfalleimer an der Mauer.
SIEBENUNDVIERZIG
W eil ich uns beide in Lebensgefahr gebracht hatte und wir dringend einen Drink brauchten, schafften John und ich es nicht mehr ins Haus der Kulturen. Stattdessen landeten wir in einer kleinen Hinterhofbar. John nahm seine Fliege ab und steckte sie in die Jacketttasche, und ich zog die Jacke an, die mir um die Schultern lag, und löste die Spange, sodass mir das Haar lose auf die Schultern fiel. Während John zum Tresen ging, suchte ich uns einen Platz. Er kehrte mit zwei Flaschen Bier zurück und stellte sie auf den Tisch. Dann setzte er sich mir gegenüber auf den Stuhl, sodass er mit den Knien den Tisch einrahmte.
»Gut«, sagte er. »Würdest du mir jetzt bitte erklären, was mit dir los ist, Hannah?«
»Ich weiß nicht.«
»Du hast gesagt, du hast deine Freundin gesehen, von der du mir erzählt hast, dass sie tot ist. Warum bist du dann über die Straße gerannt? Du wusstest doch, dass sie es nicht sein konnte! Hannah, das war, verdammt noch mal, äußerst gefährlich.«
»Tut mir leid. Ehrlich, John, ich habe einen Moment lang einfach nicht darüber nachgedacht, dass es nicht Ellen sein konnte. Weil wir kurz davor darüber gesprochen hatten, dass ich nach Magdeburg fahren will, war sie ohnehin in meinen Gedanken. Und als ich sie dann sah … als ich dachte, sie wäre es, war alles andere wie weggewischt. Ich wollte nur noch zu ihr.«
»Du meine Güte«, sagte John. Er atmete langsam aus und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Du kannst das nicht verstehen …«
»Nein, in der Tat.«
»Ellen und ich waren uns so nah« – ich sah versonnen zum Fenster –, »vielleicht zu nah.«
John seufzte. Er nahm einen Schluck aus der Flasche. »Willst du deswegen nach Magdeburg? Um einen Schlussstrich zu ziehen?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
John sah auf sein Bier.
Als ich meines hochhob, blieb der Bierdeckel an der feuchten Flasche kleben; ich löste ihn und trank. Die Bar war gemütlich; mit den Werbespiegeln an der Wand, dem Servicepersonal in den grünen Schürzen, weißen Hemden und schwarzen Hosen und der blitzblanken Einrichtung wirkte sie wie in einem Werbespot für Deutschland. Die Goldlettern der Beschriftung auf den großen Glasfenstern warfen Schatten über den Tisch und Johns Hemd.
»Vielleicht …«, begann er.
»Was?«
»Ich weiß auch nicht, Hannah. Diese Sache setzt dir offenbar ziemlich zu.«
Ich drehte den Ring an meinem Finger.
»Es wird sich wieder legen«, sagte ich und sah ihm ins Gesicht. Er war so geduldig mit mir, und ich hatte das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. Ich musste wenigstens versuchen, ihm alles zu erklären. »Das war übrigens nicht das erste Mal, es ist mir schon mehrmals passiert.«
»Was denn?«
»Dass ich Ellen gesehen habe. Es ist schon einige Zeit her, da habe ich eine ähnliche Phase durchgemacht.«
»Oh.« John kratzte sich am Ohr. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass ihn mein Geständnis nicht aus der Ruhe brachte. »Aber du hast dich wieder davon erholt?«
»Ja. In den letzten Jahren ist es mir gut gegangen. Und ich werde es auch diesmal schaffen.«
»Hast du dir professionell helfen lassen? Das letzte Mal?«
»Mm.« Ich nickte. »Ich war in Therapie.«
»Und wie lautete die Diagnose?«
»Dass ich mich meinen Dämonen stellen muss, um sie hinter mir zu lassen.«
»Und was sind deine Dämonen? Ellens Tod?«
»Das ist einer davon, ja.«
»Nun«, sagte John. »Stille Wasser sind tief. Nie im Leben hätte ich dich für eine gequälte Seele gehalten.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Ich weiß nicht.«
Er lächelte. Ich dachte, wie einfach es mit John doch war, wie einfach es war, ehrlich zu ihm zu sein.
Wir tranken noch ein paar Bier, dann schlenderten wir durch das abendliche Berlin. Es war dunkel geworden. Ich ging barfuß und trug meine Sandaletten an den Riemchen. Der Bürgersteig fühlte sich staubig und warm unter meinen Füßen an. An einem Straßenstand kauften wir Apfelküchlein und lehnten uns an die Flussmauer, als wir sie aßen. Dabei sahen wir den vorbeifahrenden Booten zu, deren Lichter sich in dem dunkelvioletten Wasser spiegelten. Die Luft roch warm, brackig und nach Sommer.
»Leben noch Verwandte von Ellen in Magdeburg?«, fragte John, während wir aufs Wasser
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