Das Dornenhaus
das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Aber was mich am meisten beschämte, war der besorgte Ausdruck in seinen Augen. Ich schaute zu Boden.
»Ich habe sie wieder gesehen.«
»Wen, Hannah? Wen hast du gesehen?«
Ich hob meine Strickjacke vom Boden auf, die mir von den Schultern gerutscht war. Sie war staubig, und ein Ärmel war zerrissen. Meine Füße waren ebenfalls schmutzig.
»Ich habe Ellen gesehen. Ellen Brecht.«
SECHSUNDVIERZIG
T ante Karla lud ihren Bruder zu einem Ausflug nach London ein, wo sie sich in Covent Garden Fidelio anschauen wollten, ihre Lieblingsoper. Sie würden erst in den frühen Morgenstunden zurückkehren. Mrs Todd blieb mit Ellen zu Hause. Die Haushälterin hatte sich wieder einigermaßen gefangen, auch wenn die Ereignisse der vergangenen Wochen auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen waren. Als Ellen sagte, sie wolle für ein paar Stunden ausgehen, fragte Mrs Todd sie nicht einmal, was sie vorhabe.
»Sei vor deinem Vater zurück«, war alles, was sie sagte. Wahrscheinlich freute sie sich auf ein paar friedliche Stunden zu Hause, um in Ruhe zu stricken oder Radio zu hören.
Jago wartete am oberen Ende der Straße auf Ellen. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus Deutschland waren sie allein. Als er sie an diesem Abend wiedersah, wallten seine Gefühle mit Macht wieder auf. Mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen kam sie auf ihn zu. Am liebsten wäre er zu ihr hingestürmt, hätte sie in seinen Armen durch die Luft gewirbelt und sie nie wieder losgelassen. In diesem Moment, als er Ellen in ihrem dunkelgrünen Minirock erblickte, mit den klimpernden Armreifen ihrer Mutter am Handgelenk und mit ihren schlanken, braun gebrannten Armen, beschloss er, sie zu heiraten; sobald sie achtzehn wäre und ihren Vater verlassen konnte. Zu Ellen sagte er darüber in diesem Moment nichts, weil er sie nicht überrumpeln wollte. Er hatte lange genug bei seinem Onkel und seiner Tante gelebt, um zu wissen, wie angsteinflößend ein Übermaß an Emotionen sein konnte.
Zuerst besuchten sie einen Pub, das Trethene Arms , wo sie unter den zahlreichen Urlaubsgästen nicht auffielen. Jago trank Cidre und Ellen nippte an ihrer geeisten Limonade. Sie saugte die Zitronenscheibe aus und verzog dabei das Gesicht. Jago erzählte ihr von seinem Vorstellungsgespräch bei einer Schiffsmaschinenbaufirma, die in der Nähe von New York eine Niederlassung hatte. Er sagte, dorthin wolle er mit ihr auswandern. Sobald er eine Aufenthaltsgenehmigung bekomme, könnten sie abreisen. Er würde zwar sehr viel arbeiten müssen, aber die Stelle sei gut bezahlt. Sie wären in der Lage, sich eine Wohnung zu mieten, sicherlich nichts Großartiges, aber für den Anfang reiche ja ein bescheidenes Apartment. Er versprach Ellen, dass er ihr den Teil ihre Erbes, den sie würden antasten müssen, auf Heller und Pfennig zurückzahlen werde. Ihr Erbe solle ihr allein gehören.
Ellen sagte: »Nein, Jago das wird es nicht. Es wird uns beiden gehören. Was immer wir tun, tun wir zusammen.« Wieder nippte sie an ihrer Limonade. »Zumindest werden wir die Flüge von dem Geld, das ich bekomme, bezahlen können, ebenso wie die Miete für eine anständige Wohnung. Und unsere Unabhängigkeit. Bestimmt hätte meine Großmutter auch gewollt, dass wir gemeinsam glücklich werden.«
»Und was ist mit deinem Vater?«, fragte Jago.
Ellen zuckte mit den Schultern. »Was soll mit ihm sein? Was kann er schon dagegen tun? Er wird mir meine Erbschaft nicht vorenthalten können. Sie gehört mir. In nicht mehr ganz acht Wochen werde ich sie bekommen!«
Als sie ihre Gläser geleert hatten, spazierten Ellen und Jago die Straße hinunter, überquerten den Friedhof und setzten sich auf die Bank hinter der Friedhofsmauer. Es war Juni, kurz vor der Sommersonnenwende, und um zehn Uhr abends war es immer noch nicht ganz dunkel. Jago war schweigsam. Er wollte Ellen so viel sagen, wusste aber nicht, wie. Ihm fehlten die Worte, um seine Gefühle auszudrücken, ihr zu sagen, wie sehr er sie vermisst hatte, dass er sich ohne sie wie ein halber Mensch gefühlt habe. Und sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie ihm seltsam abwesend vorkam. Ihre Schweigsamkeit hemmte ihn zusätzlich. Obwohl sie sich physisch so nah waren und trotz ihrer gegenseitigen Zuneigung war beiden schleierhaft, was dem anderen in diesem Moment durch den Kopf ging.
Ich hatte an diesem Abend ebenfalls eine Verabredung. Meine Mutter hatte wie versprochen den Kontakt mit dem Enkel
Weitere Kostenlose Bücher