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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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hing ihre Brille an einer Kordel um den Hals, obwohl sie sie jetzt nicht mehr benötigte.
    Das Zimmer, eine ehemalige Nonnenzelle, war hell, luftig und sehr sauber. Abgesehen von dem Sessel war es mit einem schmalen hohen Bett, einem Kleiderschrank und einer Kommode möbliert. Das gerahmte Foto eines dunkelhaarigen Mädchens in einem weißen Kleid stand auf der Kommode neben einigen wenigen Nippessachen. An der Wand hing ein einfaches Holzkreuz.
    Der Sessel stand so, dass Mrs   Todd zum Fenster hinausblicken konnte. Sie war zu alt und hinfällig, um zu lesen oder zu stricken oder sich anderen Beschäftigungen zu widmen, denen sie früher mit Freude nachgegangen war. Als einziger möglicher Zeitvertreib war ihr noch geblieben, durch das vierteilige Sprossenfenster die Welt draußen zu beobachten. Ich fragte mich, ob das das Schicksal war, das einem unweigerlich bevorstand, wenn man ein hohes Alter erreichte: die Welt durch Fensterglas zu betrachten.
    Eine andere Nonne, die uns zuvor den Blumenstrauß abgenommen hatte, kam zurück und stellte die Vase mit dem Strauß auf die Kommode neben das Foto mit dem kleinen Kind, sodass Mrs   Todd die Rosen vom Bett aus sehen konnte. Die Schwester, die offenbar kein Englisch sprach, schnupperte an den Rosen und sah die alte Dame mit einem Lächeln an.
    »Schön!«, sagte sie. »Sind sie nicht wunderschön, Frau Todd?«
    »Ich brauche keine Blumen«, sagte Mrs   Todd.
    Da sie Deutsch sprach, verstand ich ihre Worte nicht, aber an dem freundlichen, entschuldigenden Blick, den die Nonne uns zuwarf, erfasste ich den Sinn. Sie bedeutete uns, dass Mrs   Todd sehr schnell ermüdete und wir nicht allzu lange bleiben sollten. »Nicht länger als zehn Minuten!«, sagte sie auf Deutsch und hielt beide Hände in die Luft, um die Zahl zu verdeutlichen. Dann verließ sie mit raschelnden Röcken und leisen Schritten das Zimmer.
    Abgesehen vom Bett gab es keine andere Sitzgelegenheit. Ich nahm in der Nähe von Mrs   Todd auf der Bettkante Platz. John blieb an der Tür stehen.
    Ich rutschte noch ein bisschen näher zu der alten Frau und beugte mich vor, wobei ich die Ellbogen auf die Knie stützte.
    »Mrs Todd«, sagte ich. »Ich bin Hannah Brown. Ellen und ich waren Freundinnen, vielleicht erinnern Sie sich.«
    Die alte Dame blinzelte.
    Ich räusperte mich. »In der letzten Zeit musste ich sehr oft an Ellen denken«, fuhr ich fort. »Und an Sie, Mrs   Todd. Wenn ich an Ellen denke, denke ich auch an Sie.«
    »Ich hätte sie besser beschützen müssen«, sagte Mrs   Todd. »Sie wollte die Blumen, aber er hat sie weggeworfen.«
    »Wer wollte die Blumen, Mrs   Todd?«
    »Anne.«
    Ich rief mir ins Gedächtnis, wie Mr   Brecht die Blumen die Treppe hinabgeschleudert und Adam Tremlett sie unten wieder eingesammelt hatte.
    »Ich habe ihrer Mutter versprochen, dass ich mich um sie kümmern werde, aber ich habe versagt. Ich habe ihn seinen Willen durchsetzen lassen, doch das war nicht das, was sie wollte. Ganz und gar nicht.«
    Erschrocken bemerkte ich, dass sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste und langsam die Wange hinabrollte. Ich nahm ein Taschentuch und wischte sie weg.
    »Mrs   Todd, Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Sie haben immer gewissenhaft Ihre Pflicht getan. Deswegen bin ich hier. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich – ebenso wie Ellen und ihre Mutter – Sie geschätzt habe«, erklärte ich. »Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende für die Brechts getan. Mehr wäre nicht möglich gewesen.«
    John fragte mit sanfter Stimme von der Tür aus: »Wann haben Sie angefangen, für die Brechts zu arbeiten, Mrs   Todd?«
    »Als Mrs   Withiel in anderen Umständen war.«
    »Mrs   Withiel war Ellens Mutter«, erklärte ich.
    »Dann kannten Sie Ellens Mutter also von Geburt an?«
    »Noch bevor sie geboren wurde.«
    Ohne den Kopf zu drehen, hob Mrs   Todd die Hand und deutete auf das Foto auf der Kommode. »Das ist sie. Das ist meine Anne.«
    John nahm die gerahmte Fotografie und reichte sie mir. Vorsichtig legte ich sie in meinen Schoß und betrachtete sie. Anne sah wie ein glückliches Kind aus. Sie war dünn und langbeinig, und ihr fehlten zwei Vorderzähne. Das Foto war im hinteren Garten von Thornfield House aufgenommen worden.
    »Sie war ein hübsches Mädchen!«, sagte ich.
    »Und hat nie Schwierigkeiten gemacht. Nicht ein einziges Mal. Sie war ein richtiger Schatz«, sagte Mrs   Todd.
    »Ich habe immer gespürt, dass Sie sich sehr nahe standen.«
    »Die

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