Das Dornenhaus
ernsten Situation, die tragische Heldin mimen musste.
Ich trug die kleine Reisetasche, die Mrs Todd für Ellen gepackt und im Kofferraum des Wagens versteckt hatte. Die Henkel ihrer Handtasche umklammernd und mit erhobenem Kinn begab sich Mrs Todd zur Anmeldung. Auf dem Tresen stand eine große Vase mit Levkojen neben einer Schüssel mit in Papier gewickelten Pfefferminzbonbons.
Die Empfangsdame war beruhigenderweise in den mittleren Jahren und begrüßte uns strahlend. Sie lächelte zuerst Mrs Todd, dann Ellen und mich freundlich an.
»Ellen Brecht«, sagte Mrs Todd. »Sie ist hier wegen … um …«
»Ach ja, Ellen. Hier haben wir sie.« Sie deutete auf ihre Liste. Die Frau spähte über Mrs Todds Schulter. »Welche der jungen Damen ist …«
»Ich«, sagte Ellen.
»Gut, meine Liebe. Wir müssen nur noch ein paar Formalitäten erledigen, dann kommt ein Arzt und wird sich mit Ihnen unterhalten. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben doch eine Tasche mit den Sachen für die Nacht dabei?«
»Ich werde Ellen heute Nachmittag wieder abholen«, erwiderte Mrs Todd.
»Nein, tut mir leid, aber wir müssen darauf bestehen, dass die Patientinnen über Nacht bleiben, um sicherzugehen, dass alles komplikationslos verläuft.«
»Ich habe das bereits mit jemand Verantwortlichem der Klinik besprochen«, sagte Mrs Todd. »Es ist alles geklärt.«
Eine Ärztin erschien. Sie nahm Ellen mit sich, um sie zu untersuchen. Mrs Todd und ich saßen unbehaglich im Wartebereich der Lobby. Ein Stapel teurer Hochglanzmagazine lag auf einem kleinen Glastisch in der Ecke des Raums. Aber ich hatte das Gefühl, dass es in Anbetracht der ernsten Situation unangebracht wäre, in einer Zeitschrift mit Gesellschaftsklatsch zu blättern. Stattdessen sah ich den hübschen knallbunten Fischen in dem großen in eine Wand eingelassenen Aquarium zu, die pfeilschnell zwischen den Pflanzen hin und her schossen.
Blass und mit tränengeröteten Augen kehrte Ellen zurück. Die Ärztin bat uns drei in ein Privatzimmer. Ellen setzte sich auf das Krankenhausbett. Sie sah aus wie zwölf. Ich setzte mich neben sie und kam mir mal wieder wie ihre Mutter vor. Mrs Todd blieb stehen.
Die Ärztin erklärte, dass Ellen in der vierzehnten Schwangerschaftswoche sei. Sie werde eine Vollnarkose bekommen, dann werde man eine Ausschabung der Gebärmutter vornehmen. Vorausgesetzt, es komme zu keiner Blutung oder anderen Komplikationen, würde man Ellen nach Hause entlassen, unter der Bedingung, dass sich jemand um sie kümmere und auf Anzeichen einer möglichen Infektion achte. Bei den Worten der Ärztin spürte ich, wie mir heiß wurde. Ich drückte Ellens kleine kühle Hand. Sie reagierte nicht.
Die Ärztin forderte Ellen auf, sich nun auszuziehen und ins Bett zu legen. Bald werde eine Schwester kommen, um sie für die Operation vorzubereiten. Sie fragte Mrs Todd, ob sie eine Tasse Tee wolle, was diese dankend ablehnte.
Als die Ärztin das Zimmer verlassen hatte, packte Mrs Todd Ellens Tasche aus. Ellen zog das Kleid aus und schlüpfte in das Nachthemd, während Mrs Todd das Kleid in den Schrank hängte.
»Ich muss jetzt zu deinem Vater zurück, Ellen«, sagte sie.
Ellen sah mich an.
»Ich bleibe hier, keine Sorge. Ich werde dich nicht alleinlassen, versprochen.«
Kurz nachdem Mrs Todd gegangen war, erschien eine Schwester und legte Ellen eine Infusionsnadel an den Handrücken.
»Bevor Sie sich’s versehen, wird alles vorbei sein«, sagte die Schwester. »Aber beim nächsten Mal sollten Sie ein bisschen vorsichtiger sein, junge Frau.«
Ellen drehte das Gesicht zum Fenster.
Zwei Pfleger kamen herein, um Ellen auf ihrem Bett in den Operationssaal zu schieben. Es war noch früh am Morgen, ungefähr neun Uhr. Ich begleitete sie bis zum Fahrstuhl. Während wir darauf warteten, dass sich die Türen öffneten, beugte ich mich zu ihr hinab und küsste sie auf die Stirn.
Sie lächelte schläfrig. »Tut mir leid«, sagte sie.
Die Fahrstuhltüren gingen auf. Ich hielt Ellens Hand fest, bis sie mir entglitt, als sich ihr Krankenbett in Bewegung setzte.
Merkwürdigerweise verging der restliche Tag sehr schnell. Nachdem man Ellen in ihr Zimmer zurückgerollt hatte, schob ich einen Stuhl an ihr Bett. Während sie schlief und zwischendurch immer wieder kurz aufwachte, saß ich an ihrem Bett. Sie schien regelrecht gierig nach Schlaf, als könnte sie nicht genug davon bekommen. Mir wurde klar, dass sie in den
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