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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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Withiels waren nette Leute. Sie liebten ihr Kind mehr als sich selbst. Und als sie dann angefangen hat, Klavier zu spielen …« Mrs   Todd versagte die Stimme. Sie schüttelte den Kopf.
    »Sie mochten es nicht, dass sie Klavier spielte, Mrs   Todd?«
    »Sie hat wie ein Engel gespielt. Sie wollten sie nicht wegschicken und haben deswegen Klavierlehrer ins Haus kommen lassen. Es war ja genügend Platz da, um sie unterzubringen. Es war ja so geräumig, Thornfield House. Die Lehrer haben sich die Klinke in die Hand gegeben, aber Anne war besser als sie alle.«
    »Und als sie zwölf war, kam dann Peter Brecht?«, fragte ich.
    Mrs   Todd nickte. Ihre Hände zitterten, und sie war in ihrem Sessel ein wenig zusammengesackt. Ich überlegte, ob ich sie wieder aufrichten sollte, fürchtete aber, sie zu beschämen. Offensichtlich hatte die Erwähnung von Peter Brecht sie nervös gemacht. Sie leckte sich über die Lippen, und ihre Pupillen huschten hin und her.
    »Er hatte sich in Europa bereits einen Namen gemacht. Es hieß, er sei ein Genie.«
    Mrs   Todd sah mich an, als versuchte sie, mir etwas klarzumachen, ohne es aussprechen zu müssen. Sie öffnete und schloss mehrmals die Lippen, während sie nach den richtigen Worten suchte. Schließlich gab sie auf, machte die Augen zu und lehnte den Kopf an das Kissen in ihrem Rücken.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht aufregen. Möchten Sie etwas trinken, Mrs   Todd? Vielleicht eine Tasse Tee?«
    »Wasser.«
    »Ich gehe und hole welches«, sagte John. Er verließ das Zimmer und schloss leise die Tür. Ich hörte, wie sich seine Schritte auf dem Flur entfernten.
    Ich rutschte noch ein wenig näher zu Mrs   Todd, sodass sich unsere Knie beinahe berührten und ich den weißen Haarflaum auf ihrem Gesicht und den Puls an ihrer Halsschlagader sehen konnte. Insgeheim bat ich Gott um Verzeihung für meine nächste Frage, aber ich musste sie ihr stellen.
    »Sie haben Peter Brecht nie gemocht, nicht wahr, Mrs   Todd?«
    Die alte Dame bewegte kaum merklich den Kopf. »Er hat sie verdorben.«
    »Aber er hat Anne doch geliebt! Er hätte sie doch nicht absichtlich verletzt?«
    Sie schwieg. Ich wartete auf eine Antwort, aber Mrs   Todd sagte nichts mehr. Ihre Augen waren unruhig, und obgleich ihr Gesicht ausdruckslos blieb, krampfte sie die Hände zusammen, als grämte sie sich.
    »Er war siebenundzwanzig und sie vierzehn«, sagte sie schließlich. »Erst vierzehn.«
    Ihre Worte waren frei von jeder Zweideutigkeit.
    »Oh. Ich verstehe.«
    Ich blickte durch eines der vier kleinen Quadrate des Sprossenfensters in den Garten hinaus. Zwei Nonnen jäteten Unkraut in einem Blumenbeet, und eine dritte ging sehr langsam mit einer alten Frau spazieren. Mir fiel auf, dass die Nonnen immer lächelten. Das ist ein guter Ort, dachte ich. So offen und hell und schön. Das pure Gegenteil zu Thornfield House mit all seinen Geheimnissen und Sünden.
    Fragen über Fragen türmten sich auf. Ich hatte immer geglaubt, die Familie Brecht zu kennen, alles über sie zu wissen, aber nun stellte sich heraus, dass ich gar nichts wusste.
    Ich erinnerte mich daran, wie ich der alten Dame zugewinkt hatte, die am Fenster von Thornfield House stand und herausschaute. Annes einsamer Mutter. Und ich rief mir ins Gedächtnis, was sie gesagt hatte: dass der Teufel ihr die Tochter weggenommen habe.
    »Mr   und Mrs   Withiel haben es zu spät bemerkt«, sagte Mrs   Todd. »Es war nicht Annes Schuld. Sie war ja noch ein Kind. Sie dachte, sie liebt ihn.«
    Ich errötete. Ich erinnerte mich, dass auch ich in Peter Brecht verliebt gewesen war. Wie ich mich von ihm hatte verführen lassen, dass ich an ihn geglaubt hatte, dass ich ihn begehrt hatte. Ich sah auf meine Hände hinab, auf meine ringlosen Finger mit den abgekauten Nägeln, und dachte, dass mein ganzes Leben damals von meiner hilflosen blinden Leidenschaft für Mr   Brecht bestimmt gewesen war.
    »Dann ist er also mit ihr nach Magdeburg zurückgekehrt?«, fragte ich ruhig.
    »Ja.«
    »Und Sie sind mit ihnen gegangen?«
    »Ich hatte Mrs   Withiel versprochen, mich um Anne zu kümmern. Ich hatte es ihr versprochen.«
    »Oh, Mrs   Todd, aber das haben Sie ja auch!« Ich umfasste ihre Hand mit meinen beiden Händen. Sie war leicht und fast so zart wie eine Feder. »Sie waren wunderbar zu ihnen allen.«
    Die Tür ging auf. Ich hatte keine Schritte auf dem Flur gehört. Als ich den Kopf drehte, erblickte ich John, der mit einem Tablett hereinkam.

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