Das Dornenhaus
warteten. Und zusammen mit meiner Mutter hatte Mrs Todd die Scherben aufgekehrt und das Blut von den Holzdielen gewischt. Niemand, abgesehen von Ellen, kannte Mr Brechts cholerisches Temperament und seine gewaltsame Ader besser als sie. Sie wusste, wozu er fähig war. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich sah von Mrs Todd zu Ellen. Und dachte an Jago.
»Mrs Todd hat recht«, sagte Ellen. Sie klang wie ein Roboter. »Wir müssen das Baby loswerden.«
Ellens Worte ließen mich zusammenzucken. Ich rief mir den Aufklärungsfilm ins Gedächtnis, der uns gezeigt worden war, um uns die Folgen von ungeschütztem Geschlechtsverkehr aufzuzeigen. Schnell schloss ich die Augen, um das Bild wieder zu vertreiben.
»Es gibt eine Privatklinik außerhalb von Truro, wo man keine großen Fragen stellt«, sagte Mrs Todd. »Das Geld werde ich irgendwie auftreiben.«
»Nein, es muss doch noch einen anderen Weg geben«, sagte ich leise.
Ellen hob den Blick. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, gibt es nicht.«
»Was ist mit Jago? Weiß er von dem Baby?«
»Es ist noch kein Baby«, sagte Ellen.
»Mach dir wegen ihm keine Gedanken«, sagte Mrs Todd. »Du kannst ihm sagen, du hast es verloren. Eine Fehlgeburt. Das ist im Grunde nicht mal gelogen.«
»Nein, nein!« Plötzlich war ich furchtbar aufgeregt, als würden Mrs Todd und Ellen einen riesigen Felsbrocken auf mich zurollen, der immer schneller wurde. »Du darfst das nicht machen, ohne es ihm zu sagen. Du darfst ihn nicht belügen! Das darfst du nicht, Ellen, das ist nicht fair! Es ist genauso sein Baby wie deins.«
»Pscht!«, sagte Mrs Todd und warf einen bedeutungsvollen Blick zur Decke. »Wenn er dich hört …«
»Warum kannst du nicht einfach von hier weggehen«, sagte ich zu Ellen.
»Du weißt, dass ich das nicht kann.«
Ellen beugte sich nach vorn und zog den Saum ihres Nachthemds hoch. Einer ihrer Knöchel war schlimm geschwollen und lila verfärbt, und die dünne Haut spannte sich darüber, als könnte sie jeden Moment platzen wie die einer überreifen Pflaume.
»Papa und Tante Karla hatten einen Streit«, sagte sie. »Tante Karla hat ihm gesagt, dass sie mich von hier wegbringt. Und ich wollte mit ihr gehen.«
»Und dann hat er dir das angetan?«
Ellen ließ den Saum wieder fallen.
»Er hat die Tür zugeschlagen und meinen Fuß eingeklemmt. Er hat mir das angetan, obwohl er mich liebt. Überleg mal, Hannah, was er Jago antun würde.«
EINUNDFÜNFZIG
D as Pflegeheim befand sich in einem Kloster außerhalb von Magdeburg und wurde von Ordensschwestern betrieben. Es lag inmitten eines wunderschönen Anwesens mit einem gepflegten Rasen und Schatten spendenden Bäumen, und die strahlende Sonne tat ein Übriges.
John und ich hatten an einem Blumenladen halt gemacht und einen Strauß orange- und rosafarbener Rosen mit Schleierkraut gekauft, der, hübsch eingewickelt, in meinem Schoß lag.
Als ich das Gebäude erblickte, wusste ich, dass sich Mrs Todd hier bestimmt wohlfühlte. Die bogenförmige Eingangstür stand offen. Dahinter befand sich eine spärlich eingerichtete, aber dennoch elegante Lobby. John betätigte die kleine Handglocke auf dem Empfangstresen, und schon tauchte eine Nonne mit einem überaus freundlichen Gesicht und einer Brille mit dicken Gläsern auf. John hatte unseren Besuch telefonisch angekündigt. Während wir uns in das Gästebuch eintrugen, wartete die Ordensschwester lächelnd und bedeutete uns dann, ihr zu folgen.
Unsere Absätze klapperten auf dem gefliesten Boden der Flure mit den hohen, gewölbten Decken. Die Wände waren weiß gestrichen, und eine Reihe schmaler Fenster sorgte für ausreichend Helligkeit. In der Mitte des Klosters befand sich eine Kapelle mit Buntglasfenstern, und das hereinfallende Licht malte farbige Muster auf den Boden.
Die Schwester führte uns in einen Seitenflügel. An einer Tür blieb sie stehen und klopfte kurz mit den Fingerknöcheln, ehe sie, ohne eine Antwort abzuwarten, die Klinke hinunterdrückte und sie öffnete. Eine winzige alte Frau saß in einem Sessel am Fenster. Ich brauchte einen Moment, um Mrs Todd in ihr zu erkennen. Sie war kleiner geworden, und ihre Haut war runzlig wie ein Apfel, der zu lange in einer Obstschale gelegen hatte. Sie hatte die Hände im Schoß, und ich sah, dass sie heftig zitterten. Offensichtlich litt sie an Parkinson. Wie früher trug sie auch jetzt schwarze Kleidung, und ihr Haar war wie damals zu einem Knoten geschlungen. Noch immer
Weitere Kostenlose Bücher