Das Dornenhaus
eine andere Sicht auf die Dinge und schämte mich, weil ich ihr nicht mehr Respekt entgegengebracht hatte.
In dieser Nacht wurde ich nicht von Albträumen verfolgt, aber die Reue nagte an mir. Ich dachte an die vielen Male, als Mrs Todd ohne großes Aufhebens eingegriffen hatte, wenn es in Thornfield House mal wieder Schwierigkeiten gab. Wie sie allein durch ihre leise Art, mit der sie ins Zimmer kam, die Spannung gemildert und wie sie Anne Brecht und deren Tochter beschützt hatte. Es musste mehr gewesen sein als die Loyalität einer Hausangestellten, die sie nach Annes Tod in Thornfield House gehalten hatte. Sie musste Ellen geliebt haben. Nur dass das damals keinem von uns bewusst gewesen war.
Am nächsten Morgen begab ich mich früh in den Frühstücksraum des Hotels hinunter und aß Brot und Obst, dann kehrte ich auf mein Zimmer zurück und rief meine Mutter an. Sie war überrascht und beunruhigt, als sie meine Stimme hörte. Sofort fürchtete sie, es sei etwas passiert, ich stecke in Schwierigkeiten oder sei krank. Ich versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei, und erzählte ein bisschen von den üblichen Reiseerlebnissen, den ermüdenden Flughafenkontrollen und der Freundlichkeit der Deutschen, dann holte ich tief Luft und sagte: »Mum, weißt du zufällig, was aus Mrs Todd geworden ist?«
»Eine Weile hat sie bei ihrer Schwester gewohnt, dann ist sie nach Deutschland gezogen«, erwiderte meine Mutter. »Die Brechts haben ihr angeboten, in einem kleinen Haus auf ihrem Grundstück zu wohnen. Sie haben offensichtlich für ihren Lebensabend gesorgt.«
»Meinst du auf Schloss Marienburg? Dass sie dort gewohnt hat?«
»Ja, genau, so hieß es! Sie hat sich dort sehr wohl gefühlt. Jedes Jahr hat sie mir zu Weihnachten geschrieben, nur ein paar Zeilen auf einer Karte, und einmal hat sie mir sogar ein Foto vom Weihnachtsmarkt geschickt, das sah sehr idyllisch aus. Dein Vater und ich hatten eigentlich vor, einmal nach Deutschland zu reisen und sie zu besuchen, aber wir sind nie dazu gekommen.«
»Sie hat dir regelmäßig geschrieben?«
»Ja, vor ihrem Schlaganfall. Jetzt lebt sie in einem Pflegeheim.«
»Weißt du den Namen des Heims, Mum? Oder die Adresse? Ich dachte, dass ich mal bei ihr vorbeischauen könnte, da ich schon mal so nah bin.«
Meine Mutter war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber ich versicherte ihr, dass ich der alten Dame nur ein paar Blumen bringen wollte. Ich erzählte meiner Mutter nicht, dass ich plötzlich das Bedürfnis hatte, Mrs Todd zu sagen, dass ich mittlerweile verstand, wie treu sie für die Familie gesorgt und dass sie Ellen sehr geholfen hatte. Auf gewisse Weise wollte ich wiedergutmachen, was ich als junges Mädchen versäumt hatte.
Meine Mutter bat mich kurz zu warten, um Adressbuch und Brille zu holen, und kam kurz darauf zurück. Sie diktierte mir den Namen und die Adresse des Pflegeheims, wobei sie jedes Wort buchstabierte. Ich dankte ihr und versprach, mich gleich nach meiner Rückkehr nach Bristol wieder zu melden. Dann ging ich über den Flur zu Johns Zimmer und klopfte an.
»Komm rein!«, rief er.
Er saß am Schreibtisch beim Fenster, trank Kaffee und las seine E-Mails. Als er mich erblickte, sprang er auf, um seinen Anzug wegzunehmen, den er über den zweiten Stuhl gelegt hatte. Ich setzte mich.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte er.
»Ja, sehr gut. Und du?«
»Wie ein Stein.«
Ich lächelte. Allein mit John in einem Hotelzimmer zu sein, machte mich ein bisschen befangen. Es erschien mir zu intim. Ich bemühte mich, nicht auf das ungemachte Bett zu schauen, auf das zerknitterte Laken und die Boxershorts, die zusammengeknüllt neben dem Nachttisch lagen.
Ich räusperte mich. »Ich wollte dich fragen, ob ich kurz deinen Laptop benutzen kann, um nachzuschauen, wie ich am besten nach Magdeburg komme.«
»Natürlich.« Er machte mir Platz.
Als Erstes verschaffte ich mir über Google Maps eine Orientierung, wo Schloss Marienburg und das Pflegeheim lagen. Beides befand sich außerhalb der Stadt, wobei das Pflegeheim näher bei Berlin war. Während John mir einen Kaffee aufbrühte, informierte ich mich über die öffentlichen Verkehrsmittel, die in Frage kamen. Mir wurde klar, dass es nicht einfach sein würde.
»Und, bist du jetzt schlauer?«, fragte er.
»Es wird wohl auf ein Taxi hinauslaufen«, sagte ich.
John schaute mir über die Schulter. »Wohin genau willst du?«
»Ich habe dir doch von Mrs Todd, der Haushälterin der
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