Das Dornenhaus
Darauf standen ein Krug mit Wasser und ein Glas, ein Schälchen mit drei Tabletten, ein Teller mit Brot, Aufschnitt und Essiggurken. Die junge Nonne trat hinter ihm ins Zimmer.
»Zehn Minuten hatten wir gesagt!« Sie tippte auf ihre Uhr. Dann schüttelte sie den Kopf und wedelte mit gespieltem Ernst mit dem Finger.
»Tut mir leid«, sagte ich.
Ich wäre so gern noch ein wenig geblieben. Als ich mich wieder zu Mrs Todd umwandte, starrte sie zum Fenster hinaus. Ich beugte mich zu ihr und küsste sie ganz zart auf die Wange. Sie hob die Hand und berührte mein Gesicht.
»Sie haben getan, was Sie konnten, Mrs Todd«, sagte ich. »Sie waren wie ein Schutzengel für Anne und Ellen. Sie waren wunderbar.«
»Ich habe nie jemandem von dem Baby erzählt«, sagte sie. »Niemandem.«
»Das weiß ich.«
»Niemand weiß, dass dein Bruder der Vater war.«
»Ich weiß.«
»Du warst ein gutes Mädchen, Hannah«, wisperte Mrs Todd so leise, dass weder John noch die Nonne sie hören konnten. »Du warst Ellen eine gute Freundin.«
Aber das stimmte nicht. In Wahrheit hätte ich ihr keine schlechtere Freundin sein können.
ZWEIUNDFÜNFZIG
A ls mein Vater von der Nachtschicht nach Hause kam, sah er mich die Straße hinaufradeln. Es war noch früh am Morgen, ungefähr halb sechs, und noch kühl. Mein Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich seinen alten Van gar nicht wahrnahm. Er stellte den Wagen vor dem Haus ab und folgte mir dann zu Fuß die Straße hinauf. Ich hielt an der Kirche an, lehnte das Fahrrad an die Mauer und betrat durch das Tor den Friedhof und dann die Kirche.
Dad fand mich im kühlen Dunkel der Kirche in einer der hinteren Bänke. Da ich trotz der Überzeugungsversuche meiner Eltern noch nie eine eifrige Kirchgängerin gewesen war, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Er setzte sich neben mich und schwieg eine Weile, bis er sich schließlich räusperte und mir ungeschickt die Schulter tätschelte. Auf seine mir so vertraute Art, in seinem marineblauen Pullover, nach Menthol riechend, ein bärtiger Seebär.
Schließlich sagte er in kumpelhaftem Ton: »Kommt ein Pferd in eine Bar, und der Barmann fragt: Warum machst du so ein langes Gesicht?«
»Ich gehe nach Chile, Dad«, sagte ich. »Ich werde an einer Fossilienausgrabung teilnehmen.«
»Gut.«
»Gut?«
»Ja. Es wird dir guttun, mal von hier wegzukommen.«
»Das heißt, es macht dir nichts aus?«
»Natürlich macht es mir was aus, aber was wär ich denn für ein Vater, wenn ich dir bei so einer Chance einen Knüppel zwischen die Beine werfen würde?«
In diesem Moment hätte ich meinen Vater gern umarmt, aber so etwas tat man in meiner Familie nicht. Also saß ich einfach nur da und blickte auf meine Knie und die staubbedeckte Bank vor mir.
»Du fürchtest wohl, es deiner Mutter zu erzählen?«
»Ein bisschen schon.«
»Sie wird damit klarkommen. Vielleicht wird sie ein Tränchen verdrücken, aber sie wird sehr stolz auf dich sein, Hannah. Du solltest sie mal bei den Kirchenveranstaltungen erleben, da heißt es immerzu Hannah hier und Hannah da. Ich bin sicher, unsere Gemeinde kann bald nicht mehr hören, wie wunderbar du bist.«
Ich rang mir ein Lächeln ab.
»Komm schon«, sagte mein Vater. »Komm mit nach Hause, dann mache ich dir ein ordentliches Frühstück. Zwei Eier. Blutwurst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Danke, Dad, aber ich werde bei Ellen frühstücken.«
Dad stellte keine weiteren Fragen. Er lächelte nur. »Schön.«
Er tätschelte mir den Rücken und bot mir eine Fruchtpastille aus der Packung an, die er immer in seiner Hosentasche hatte. Ich nahm sie und steckte sie in den Mund, obwohl sie warm war und Fussel daran klebten. Als ich bei Ellen ankam, haftete der geleeartige Klumpen noch immer an meinem Gaumen.
Die Klinik befand sich in einem großen Backsteingebäude mit symmetrischer Fassade inmitten eines Landschaftsgartens. Von außen hätte niemand vermutet, was innerhalb dieser Mauern vor sich ging. Mrs Todd schritt voraus, und mir tat es in der Seele weh zu sehen, wie fehl am Platze sie mit ihrem Kopftuch und dem altmodischen Mantel wirkte. Ellen und ich folgten ihr Hand in Hand. Ellen hatte sich schick gemacht. Sie trug eines der Leinenkleider ihrer Mutter und Ballerinas. Sie hatte sogar eine Sonnenbrille auf – »wegen der Tränen, die später fließen werden«, hatte sie erklärt, und ich musste meinen Ärger herunterschlucken, weil sie sogar jetzt, in einer so
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