Das Dornenhaus
vergangenen Tagen wahrscheinlich kaum geschlafen hatte. Schließlich streckte ich mich neben ihr auf dem Bett aus und legte den Arm um sie. Obwohl ich auf sie aufpassen hatte wollen, musste ich irgendwann selbst eingeschlafen sein. Es war warm im Zimmer, von draußen drang Vogelgezwitscher herein, und der Rhythmus von Ellens Atem wirkte einschläfernd.
Als eine Schwesternhelferin mit einem Essenswagen hereinkam, wachte ich auf. Sie stellte zwei Tabletts mit Hühnchenfrikassee, Erbsen und Kartoffelbrei auf den Tisch. Ellen war inzwischen ebenfalls erwacht, aber ihr Gesicht sah noch ganz zerknittert aus.
»Wie fühlst du dich?«, fragte ich sie, und Ellen rieb sich die Augen und gähnte. »Was ist mit Jago?«, fragte ich. »Wann willst du es ihm sagen?«
»Ich weiß noch nicht.«
Sie richtete sich auf und stemmte sich auf die Ellbogen. »Sag ihm bitte nichts, Hannah. Versprich es mir. Ich muss es ihm selbst beibringen.«
»Du willst ihm also die Wahrheit sagen?«
Sie nickte. »Ja, sobald der geeignete Zeitpunkt gekommen ist.«
Den restlichen Nachmittag lagen wir zusammen auf dem Bett und sahen fern, bis die Ärztin wiederkam, um Ellen zu untersuchen. Währenddessen begab ich mich in den Empfangsbereich und war erleichtert, dort Mrs Todd vorzufinden.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Es ist vorbei, und es geht ihr gut.«
Mrs Todd schloss die Augen und bewegte in einem leisen Stoßgebet die Lippen. Ich hörte, wie sie sagte: »Gott, vergib mir.« Im selben Moment blickte ich zu der Glastür. Blass wie ein Gespenst schritt Ellen langsam darauf zu. Sie hatte die Ärmel ihrer Strickjacke bis zu den Fingern heruntergezogen, als friere sie. Sie streckte die Hand aus und schob die Tür auf.
»Nichts wie raus hier«, sagte sie.
DREIUNDFÜNFZIG
N achdem wir das Pflegeheim verlassen hatten, gingen John und ich in ein kleines Café am Rand des Einkaufszentrums.
»Kanntest du die Geschichte von Ellens Eltern?«, fragte John, während er Zucker in seinen Cappuccino rührte. »Wie sie einander kennenlernten?«
»Einen Teil davon. Weißt du, all die Jahre über hab ich ihren Vater für den perfekten Mann gehalten. Er schien seiner Frau so treu ergeben zu sein.« Ich lachte bitter. »Ich war sogar in ihn verknallt. Hab davon geträumt, ihn später einmal zu heiraten.«
»Offensichtlich war er der Typ, der junge Frauen anzieht.«
»Nein, das war es nicht.« Ich rief mir in Erinnerung, wie er die Hand auf meine Taille gelegt hatte. Wie es sich angefühlt hatte. Wie er an jenem Abend in St Ives meinen Nacken geküsst hatte. Doch erneut drängte sich mir die Frage auf, ob ich mir das alles nicht nur einbildete. Bei der Erinnerung an die Socke in seinem Zimmer, die ich eingesteckt hatte, wallte Ärger in mir auf, weil ich ein so einfältiger, liebestrunkener Teenager gewesen war. »Er war nicht … weißt du, er war nicht hinter jungen Mädchen her. Für ihn gab es nur Anne. Er war völlig besessen von ihr. Ellen hat immer gesagt, er sei verrückt, aber ich habe ihr nicht geglaubt. Ich habe es nicht erkannt.«
»Und wie denkst du jetzt darüber?«
»Ich glaube, sie hatte recht. Er war eifersüchtig, unsicher, besitzergreifend, paranoid. Und er konnte Menschen hervorragend manipulieren … Er war so von seiner Liebe zu Anne erfüllt, dass es an Geisteskrankheit grenzte. Es muss ein Albtraum gewesen sein, mit ihm zu leben. Wahrscheinlich kam es ihm sogar gelegen, dass Anne so krank war, denn mit ihrer Behinderung konnte er sie besser kontrollieren.« Ich stieß ein leises, trauriges Lachen aus. »Jedenfalls glaubte er das. Aber Anne und Ellen verstanden es bestens, ihn auszutricksen. Anne hat ihn bis zum Schluss, bis zu dem Tag, an dem sie starb, an der Nase herumgeführt.«
»Ich habe noch nie verstanden, warum manche Menschen das Bedürfnis haben, denjenigen, den sie zu lieben vorgeben, zu kontrollieren.«
Ich sah ihn an. Er runzelte die Stirn und starrte auf sein Stück Sahnetorte hinab. Er hatte es in kleine Portionen zerteilt.
»Ich nehme an, es hat mit Vertrauen zu tun«, sagte ich vorsichtig. Ich beobachtete seine Miene. Bei dem Wort »Vertrauen« zuckte er kaum merklich zusammen.
»Aber ist es nicht so, Hannah, dass man den Menschen, den man liebt, vertreibt, wenn man sich zu sehr an ihn klammert? Wenn man ihm hingegen seine Freiheit lässt, wird der Partner bei einem bleiben, wenn ihm etwas daran liegt.«
»Und wenn nicht, wird er gehen.«
John nickte. Er spießte mit seiner Gabel ein Stück Kuchen auf
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