Das Dornenhaus
Hafenmauer; immer wieder spritzte ein Schwall eiskaltes Wasser auf den Gehsteig. Bis auf ein paar wenige unerschütterliche Feriengäste waren alle Touristen längst abgereist. Nur Küstenwanderer und ein paar Eigenbrötler, die stundenlang dasaßen und aufs Meer hinausblickten, waren noch da. Ellen und ich hatten bei der Reinigung von Ferienbungalows mitgeholfen, womit wir einer Freundin meiner Mutter einen Gefallen taten. Wir hatten die Betten abgezogen, Schränke ausgewaschen und Böden gewischt, kurz und gut die Endreinigung erledigt, ehe die Cottages dem Winterschlaf überlassen wurden. Nachdem wir unseren Lohn bekommen hatten, hatten wir beschlossen, eine Kleinigkeit zu essen, während wir auf den Bus warteten, der uns nach Trethene zurückbringen würde. Da wir seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatten, waren wir hungrig. Unsere Anoraks hatten wir zum Trocknen über die Stuhllehnen gehängt. Ich hatte mir den Mund an der heißen Pastete verbrannt und wedelte mir mit der Hand Luft zu, während mir die Hitze ins Gesicht stieg. Die Fenster waren beschlagen, aus dem Radio tönte Musik, aus der Küche dampfte und brutzelte es, und Zigarettenrauch und Kaffeegeruch hingen in der Luft. Ellen versuchte lachend, mir einen Eiswürfel in den Mund zu schieben, weshalb ich Jago trotz der Türglocke zunächst nicht bemerkte. Ellen saß mit dem Gesicht zum Eingang. Plötzlich sah ich, wie aus ihrem belustigten Gesichtsausdruck ein überraschter wurde. Ich drehte den Kopf zur Tür und erblickte Jago. Vor Wasser triefend, mit am Schädel klebendem nassem Haar und vor Kälte blassem Gesicht stand er vor uns. Mit seinem Regenhut und in Gummihose und Gummistiefeln wirkte er wie ein Riese. In den Gummi- und Salzgeruch, den er mit hereinbrachte, mischte sich schwach ein männlicher Schweißgeruch. Er war groß geworden, maß inzwischen mehr als eins achtzig und war kräftig gebaut. Auch sein Gesicht war männlicher geworden, kantiger. Er hatte eine leicht gebogene Nase und dunkle Augen, und das ehemals Rotblond seines Haars hatte sich in ein dunkles Kastanienrot verwandelt. Jago hatte den Regenhut abgenommen und hielt ihn lächelnd in den Händen. Mich hatte er noch nicht bemerkt.
Mein Blick wanderte von Ellens Gesicht zu Jagos, und mit einem Mal war mir klar, dass sie in Jago nicht mehr den ungehobelten Jungen aus Trethene sah, sondern einen gut aussehenden jungen Mann. Ein neuer, ungekannter Ausdruck lag in ihren Augen. Damals wusste ich ihn nicht richtig zu deuten. Ich war zu jung, zu naiv, konnte ihn nicht benennen, und dennoch vermittelte er mir ein unbehagliches Gefühl. Erst später, im Rückblick, begriff ich, dass Ellen Jago in diesem Moment zum ersten Mal richtig sah. Ihn in Erwägung zog.
Jago hob grüßend die Hand und machte einen Schritt auf unseren Tisch zu, aber im selben Moment schoss Gemma Mills, die Inhaberin des Cafés, hinter dem Tresen hervor und scheuchte ihn, mit einem Geschirrtuch wedelnd, zurück. »Bleib mir mit deinen nassen Stiefeln von meinem schönen, trockenen Fußboden weg, Jago Cardell!«, schimpfte sie.
Jago kratzte sich lachend hinter dem Ohr und errötete ein wenig, und alle Gäste im Café sahen ihn beeindruckt an. Ich weiß noch genau, wie er zu jener Zeit war. Er war nervös, schien immer das Gefühl zu haben, sich verteidigen zu müssen, und überspielte seine Unsicherheit, indem er sich besonders forsch gab und sich einer derben Sprache bediente. Ich war stolz auf diesen Jungen, aus dem bald ein richtiger Mann werden würde, der einfach so im Café stand und alle einfach so in seinen Bann zog.
Ellen fasste nach meiner Hand und drückte sie. Sie blickte fasziniert auf Jago, sah ihn unter dem dunklen Pony aus ihren dunklen Augen an wie etwas Begehrenswertes, etwas, das sie unbedingt haben wollte. Wut stieg plötzlich in mir auf. Am liebsten hätte ich sie daran erinnert, was sie mir einmal gesagt hatte: dass sie Jago nicht besonders mochte, dass er ihr zu rau und bäuerisch sei und sie sich nicht wohlfühle in seiner Gegenwart.
Gemma strahlte ihn mit geröteten Wangen an. Sie trat zu ihm und fasste ihn an den Armen. »Und, Süßer, was hast du mir mitgebracht?«, fragte sie. »Hast du Krebse dabei?«
Jago nickte. »Und eine Kiste Makrelen. Ich hab sie vor die Hintertür gestellt.«
»Bist ein guter Junge«, sagte Gemma. »Du weißt halt, was ich mag!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Jago auf die Wange. »Du meine Güte, nicht dass du mir eine Lungenentzündung
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