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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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Brotkrümeln. Eine Zeit lang unterhielten wir uns über die Arbeit.
    Dann fragte John: »Und wie geht es dir heute, Hannah?«
    »Gut, es geht mir gut.«
    »Keine Migräne mehr?«
    »Ich habe keine weiteren Geister mehr gesehen, wenn es das ist, was du wissen willst.« Ich lächelte, um ihm zu zeigen, dass mich seine Frage kein bisschen kränkte, und wischte ein paar Krümel von meinem Schoß.
    »Und was ist, wenn diese Frau, die du gestern gesehen hast, gar kein Trugbild war, das dir deine Migräne vorgegaukelt hat? Vielleicht gibt es sie ja wirklich, vielleicht war es eine Verwandte von Ellen.«
    Eine Erinnerung durchzuckte mich. Ellen, die mit der flachen Hand eine Glastür aufstößt. Der Duft von Garten-Levkojen, eine Schüssel mit Pfefferminzbonbons; Ellen, bleich wie ein Geist, hohläugig und ausgezehrt, die Ärmel ihrer Jacke heruntergezogen bis zu den Fingerspitzen, die Arme um den Oberkörper geschlungen, die sagt: »Lass uns von hier verschwinden.«
    Ich schüttelte den Kopf, um das Bild zu verscheuchen.
    »Nein. Es war niemand anderes.«
    John nahm einen Schluck Kaffee. »Auf der Erde leben sieben Milliarden Menschen. Wenn man das bedenkt, ist es doch erstaunlich, dass wir nicht öfter jemandem begegnen, der einem anderen Menschen täuschend ähnlich sieht.«
    Er wollte mich aufmuntern, indem er mir eine logische Erklärung für mein Erlebnis am vorigen Tag lieferte. Typisch John, dachte ich. War genau dieser Charakterzug von ihm auch der Grund, warum er es mit Charlotte aushielt? Weil er immer wieder aufs Neue eine Entschuldigung oder Erklärung für ihr Verhalten fand und es in einem bestimmten Licht bewertete? War seine Antriebskraft Einfühlungsvermögen, oder machte er sich etwas vor, weil das einfacher war, als der Wahrheit ins Auge zu blicken?
    Ich hielt die Hände so fest umklammert, dass sich meine Nägel in die Haut gruben, und hatte den Blick starr auf den Hafen gerichtet.
    »Ja, das stimmt«, sagte ich und wechselte dann das Thema. »Hast du am Wochenende schon etwas Bestimmtes vor?«
    John knüllte seine Sandwichtüte zusammen. »Nein. Charlotte fährt mit den Kindern zu ihrer Mutter. Sie haben Karten für eine Kindershow.« Er lächelte. »Also habe ich das Haus mal wieder für mich und kann tun und lassen, was ich will. Zum Beispiel die ganze Zeit Bier trinken und Punkmusik hören.«
    »Na ja, wenn dir das Spaß macht.«
    John seufzte. »Nein, nicht wirklich. Um ehrlich zu sein, mag ich es nicht, wenn alle weg sind. Ich bin nicht gut im Alleinsein.«
    »O John, das tut mir leid.«
    »Hey!«, sagte John. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Es sind ja nur zwei Tage. Am Sonntagabend kommen sie zurück. Ich werd’s überleben. Und du? Hast du irgendwelche Pläne fürs Wochenende?«
    »Ich … ich habe mir gedacht, dass ich vielleicht nach Cornwall fahre. Ich war schon längere Zeit nicht mehr bei meinen Eltern. Sie würden sich sicher freuen, wenn ich komme, und Rina meinte, es tue mir bestimmt gut, mal ein paar Tage rauszukommen.«
    »Eine gute Idee. Wir hatten in letzter Zeit viel Stress bei der Arbeit, du hast dir eine Pause verdient.«
    »Hm.«
    Ich hob den Kopf, streifte mir eine Haarsträhne hinters Ohr und spielte mit dem Verschluss an der Rückseite meines silbernen Ohrsteckers. Ich hätte John gern gefragt, ob er Lust hatte, mit nach Cornwall zu kommen, einfach nur so, als Freund, um ein bisschen auszuspannen, aber ich brachte es nicht fertig. Nicht in dieser Situation. Nicht, solange ich wusste, was er nicht wusste – dass sein perfektes Leben bald zerbrechen würde.

ACHTZEHN

    M rs Brechts Sterben schien ewig zu dauern.
    Zumindest kam es mir damals so vor, als die Tage viel länger schienen als heute und ein Jahr unendlich lange war, von einer beinah unfassbaren Dimension. Als Mrs   Brechts Zustand wirklich kritisch wurde, kannte ich die Familie etwas mehr als sechs Jahre, hatte jedoch das Gefühl, sie schon mein ganzes Leben lang zu kennen.
    In den Monaten vor Mrs   Brechts Tod fiel es mir manchmal schwer, mir zu vergegenwärtigen, dass sie bald sterben würde, da ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte, dass dieser Prozess so lange dauern konnte. In Filmen und Büchern geschah es immer sehr schnell, nur wenige Szenen lagen zwischen der Diagnose und Beerdigung, ein paar Sekunden zwischen der Hand am Pistolenhalfter und der tödlichen Kugel. Doch zwischen dem Zeitpunkt, da Ellen mir gesagt hatte, ihre Mutter sei so krank, dass sie bisweilen wünschte, ihren Schmerzen ein

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