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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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wurde, gleichzeitig wollte ich ihm gegenüber nicht illoyal sein.
    Ich wusste nicht, ob ich etwas unternehmen sollte, und wenn ja, was. Jedenfalls hatte ich das Bedürfnis, John meine Solidarität zu bezeugen, und sei es nur durch eine kleine Geste. Ich betrat die Bäckerei und kaufte zwei Käsesandwiches und zwei Kaffee in Pappbechern. Zurück im Museum, klopfte ich an Johns Tür, aber er war nicht in seinem Büro.
    »Bestimmt ist er unten«, sagte Rina.
    Das Hauptarchiv des Museums, wo Tausende der Exponate lagerten, die nicht Teil der ständigen Ausstellung waren, befand sich im Untergeschoss und erstreckte sich über die gesamte Grundfläche des Museums. Der riesige längliche Lagerraum mit der niedrigen Decke war der Ort, wo ich mich am wenigsten gern aufhielt. Es beherbergte unzählige Statuen, Büsten, Knochen, Bilder und weitere Objekte. Weil man den Platz optimal ausnutzen wollte, lagerten sie dicht gedrängt in behelfsmäßigen Regalen, zwischen denen man sich kaum bewegen konnte. Besonders die Totenmasken waren mir von Anfang an ein Graus gewesen – Dutzende von Gipsabgüssen, die von den Gesichtern verstorbener viktorianischer Berühmtheiten auf dem Sterbebett gemacht worden waren, zu einem Zeitpunkt, da die Körper der Toten noch nicht ganz abgekühlt waren. An manchen dieser Masken haftete sogar noch eine einzelne Wimper, oder ein Puderfleck war in dem weißen Gips eingeschlossen. Und doch übten sie irgendwie auch eine unwiderstehliche Anziehung auf mich aus: Einerseits reizte es mich, sie näher zu betrachten, andererseits wollte ich vor ihnen fliehen.
    Ich schloss die Tür auf und stieg die steile Treppe zum Archiv hinab, die in den Fels unter dem Museum gehauen war. Das Archiv wurde von nackten Glühbirnen erleuchtet, ein helles, unerbittliches Licht.
    »John?«, rief ich, bekam jedoch keine Antwort.
    Ich schlang die Arme um den Körper und huschte an den Regalen vorbei: an den Masken, den Gemälden – die gerahmten in Luftpolsterfolie und Laken gehüllt, die ungerahmten Leinwände aufgerollt wie Schriftrollen –, den Regalen voller Knochen, Zähne, Geweihe, Hörner, Hufe und Stoßzähne, Scherben antiker Keramikgefäße und jenen, in denen sich alle möglichen menschlichen Kultobjekte stapelten. Wenn Ellen mir auflauern wollte, dann wäre dieser Raum definitiv der beste Ort, irgendwo zwischen all den toten Gegenständen, den menschlichen Überresten oder diesen schrecklichen viktorianischen Gesichtern. Ich stellte mir vor, wie sie mir zwischen den Exponaten nachschlich. Wie sie mich beschattete, lautlos wie eine Motte, und nur auf einen günstigen Moment wartete, um aus dem Schatten zu treten und mich zu stellen. Ich musste meine ganze Willensstärke aufbieten, um weiterzugehen, anstatt kehrtzumachen und die Treppe hinaufzurennen, zurück in die reale Welt, die Welt der Lebenden. Endlich fand ich John in einem Bereich des Archivs, wo vorwiegend menschliche Überreste aus dem Mittelalter aufbewahrt wurden. Er trug einen weißen Kittel, hatte Ohrstöpsel in den Ohren und ein Vergrößerungsglas vor einem Auge. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er mich nicht hatte kommen hören. Ich war außer Atem, aber erleichtert, ihn endlich gefunden zu haben.
    »John …« Sachte berührte ich den Ärmel seines Kittels, um ihn nicht zu erschrecken. Er drehte sich um und sah mich mit dem verwirrten Ausdruck eines Menschen an, der mitten in einer Aufgabe unterbrochen wird, die höchste Aufmerksamkeit erfordert.
    »Ich habe dir ein Sandwich mitgebracht«, sagte ich.
    Er nahm die Ohrstöpsel seines MP 3-Players heraus und lächelte. »Womit habe ich das verdient?«
    »Es ist wohl das Mindeste, was ich tun kann, um mich für den gestrigen Abend zu revanchieren.«
    Wir verließen gemeinsam das Museum und spazierten zum höchsten Punkt des Brandon Hill Parks hinauf. In der Nähe des Cabot Tower setzten wir uns auf eine Bank und genossen die Aussicht auf den Avon und den alten Hafen von Bristol. Der Fluss schlängelte sich wie ein Silberband zwischen den alten Anlagen hindurch. Es fiel mir schwer, mir Bristol als die alte Industriehafenstadt vorzustellen, die sie einmal war. Den Hafen, in dem sich die Schiffe mit ihren hohen Masten drängten, und die lange Schlange von Pferdewagen, die darauf warteten, die gelöschten Waren abzutransportieren. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mir die historische Szenerie vor Augen zu rufen. John und ich aßen unsere Sandwiches und fütterten die Eichhörnchen mit

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