Das Dornenhaus
fragte sie.
»Fast fünf.«
»Ich muss nach Hause. Ich habe Mama versprochen, ihr zu helfen, sich zurechtzumachen. Wir haben heute Abend Gäste.«
»Wen denn?«
»Leute, mit denen sie aufgetreten ist. Russen. Einen Dirigenten.«
»Von einem Orchester?«
»Mhm.«
Ellen rollte sich auf die Seite, kniete sich hin und wischte sich den Sand von Beinen und Bauch. Dann sammelte sie ihre Kleidungsstücke ein.
»Mama war einmal berühmt.«
»Ach ja. Als was denn?«
»Als Pianistin, als was denn sonst? Bevor sie krank wurde, ist sie in der ganzen Welt herumgereist. Du kennst doch das Bild im Salon? Das ist sie in New York.«
Natürlich war mir das Gemälde aufgefallen, man konnte es unmöglich übersehen. In seinem wuchtigen, verschnörkelten Goldrahmen und flankiert von zwei Wandleuchtern, beherrschte es den Raum. Es zeigte eine junge Frau mit schmalen Schultern, die mit geradem Rücken an einem Flügel saß, die langen Finger über die Klaviatur gespreizt. Ihr dunkles Haar, das von einer funkelnden, juwelenbesetzten Spange gehalten wurde, fiel ihr in weichen Wellen über den Rücken. Sie trug ein sonnengelbes Seidenkleid, in dem sich die Rot-, Gelb- und Goldtöne der Konzertsaalbeleuchtung spiegelten. Im Hintergrund erahnte man das Publikum, das ins Dunkel getaucht war. Das Gemälde zeigte die Pianistin im Halbprofil, sodass ihr Gesicht nur andeutungsweise zu sehen war – die hübsche Ohrmuschel mit dem Perlenohrring, die gelben Rosenknospen in ihrem Haar und eine dunkle Locke, die ihr Kinn umspielte. Nun wusste ich also, dass es ein Bild von Anne Brecht war. Nie war mir in den Sinn gekommen, dass die junge, gesunde Frau an dem Flügel sie sein könnte, da ich sie nicht mit der Frau in Verbindung gebracht hatte, die sie jetzt war, mit ihren gekrümmten Fingern und dem schmerzgezeichneten Gesicht.
»Deswegen hat Papa angefangen, mir das Klavierspielen beizubringen«, fuhr Ellen fort, während sie ihre Sachen in die Tasche packte. »Weil es Mama glücklich macht. Es erinnert sie an ihr früheres Leben.«
Sie schüttelte ihr Handtuch sorgfältig aus und achtete darauf, dass der Wind den Sand nicht in meine Richtung blies, dann faltete sie es zusammen.
»Wann ist sie krank geworden?«
»Es fing an, als ich geboren wurde. Es ist meine Schuld. Wenn sie mich nicht bekommen hätte, wäre sie noch gesund. Inzwischen wäre sie wahrscheinlich die berühmteste Pianistin der Welt.«
»Das ist doch nicht deine Schuld! Schließlich kannst du nichts dafür, dass du geboren wurdest.«
»Ich weiß.« Ellen beugte sich vor, um die Riemen ihrer Tasche zu schließen. »Aber ich fühle mich trotzdem schuldig. Das würdest du an meiner Stelle auch.«
FÜNFZEHN
D er Vormittag im Museum verlief ohne Zwischenfälle, aber ich war müde und wie benebelt und beschloss, während der Mittagspause an die frische Luft zu gehen. Ich wollte einen Spaziergang in Richtung Clifton hinauf machen, wo ich einen kleinen Imbissladen kannte, in dem es köstliche hausgemachte Pasteten gab. Als ich gerade an dem großen Wills Memorial Building der University of Bristol vorbeiging, traten vor mir zwei Frauen aus dem Gebäude. Die eine hatte sich bei der anderen untergehakt, und sie waren so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie beinahe mit mir zusammengestoßen wären. Ich konnte gerade noch auf den Bordstein ausweichen. Sie hatten mir den Rücken zugewandt, aber in der schlankeren und hübscheren der beiden Frauen erkannte ich dennoch Charlotte Lansdown, Johns Frau, ihre Stimme und ihr sprödes Lachen waren unverkennbar. Auf dem Gehweg drängten sich Studenten, Passanten, die zu einem Einkaufsbummel unterwegs waren, und Touristen, und ich wurde vom Strom der Fußgänger mitgerissen, sodass ich mich geradewegs hinter den beiden Frauen wiederfand. Sie hatten offenbar das gleiche Ziel wie ich, denn sie betraten vor mir das Pastetengeschäft. Es war nicht meine Absicht zu lauschen, aber es ließ sich nicht verhindern. Sie standen direkt vor mir und bemühten sich nicht, die Stimmen zu dämpfen. Charlottes Freundin, eine mollige Frau, umfasste sie an der Taille und drückte sie aufmunternd.
»Und, hast du schon entschieden, was du tun wirst?«, fragte sie.
Charlotte legte den Kopf auf die Schulter ihrer Freundin. »An diesem Wochenende werde ich mit den Mädchen zu meinen Eltern fahren. Ich brauche Raum, um die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Wenn John die ganze Zeit um mich herum ist, kann ich nicht klar denken.«
»Du wirst ihm
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