Das Dornenhaus
Oberschenkel. Es passte wie angegossen, die Seide changierte im Sonnenlicht, die Kristalle funkelten verführerisch. Auf ihren Schlüsselbeinen schimmerte die Halskette ihrer Mutter. Ellen sah phantastisch in dem Kleid aus, das sich herrlich auf der Haut anfühlen musste. Aber anstatt vor Glück zu strahlen, wirkte sie eher bedrückt. Mit hängenden Schultern und gesenktem Blick stand sie da. Mr Brecht lächelte und schnippte Asche von seiner Zigarette. »Jetzt siehst du genau wie deine Mutter aus. Dreh dich um. Lass mich dich bewundern.«
Ellen nagte an ihrer Lippe. Sie schien den Tränen nahe. Widerwillig drehte sie sich im Kreis.
»Wunderschön! Großartig!« Mr Brecht seufzte. Er nahm wieder einen Zug von der Zigarette, ehe er den Zigarettenstummel auf den Rasen fallen ließ und mit dem Absatz austrat. »Dumm nur, dass es nur der äußere Schein ist, nicht wahr, Ellen?«
Ellen warf ihrem Vater einen bösen, beinahe hasserfüllten Blick zu.
Ich sah abwechselnd zwischen den beiden hin und her.
»Was meinst du, Hannah?«, fragte Mr Brecht. »Glaubst du, dass Ellens Freund das Kleid gefallen wird?«
Ich lachte verlegen. »Ellen hat doch gar keinen Freund.«
Mr Brecht lachte ebenfalls. Er streckte die Hand aus und zog mich zu sich. Ich reichte ihm nur bis zur Schulter. An meinen nackten Beinen spürte ich den robusten Baumwollstoff seiner Jeans. Er roch nach Zigaretten und Leder und einem würzigen, männlichen Duft. Ich spürte den Druck seiner Finger auf meinem Oberarm.
»O doch, sie hat einen Freund!«, flüsterte er mir ins Haar.
Ich schaute zu ihm hoch. Er nickte, und seine Augen funkelten spöttisch.
»Heißt das, du weißt nichts von Ellens heimlicher Liebe, Hannah?«, fragte er mit neckender Stimme. »Hat sie es dir nicht erzählt? Wo du doch ihre beste Freundin bist? Das ist aber nicht sehr nett von dir, Ellen.«
Ellen war blass geworden. Sie starrte auf den Rasen hinab. Ihr Haar fiel ihr wie ein Vorhang vors Gesicht. In dem silbrigen Kleid, barfuß und mit dem langen Haar vor dem Gesicht wirkte sie wie die Heldin eines Schauerromans.
»Nachts schleicht sie aus dem Haus, um sich mit ihm zu treffen«, fuhr Mr Brecht fort und zog mich noch näher zu sich. »Mir gegenüber behauptet sie, sie treffe sich mit dir, aber ich glaube ihr kein Wort. Sie hat gesagt, du bräuchtest in letzter Zeit besonders viel Zuwendung. Immerzu würdest du sie bitten, zu dir nach Hause zu kommen, weil du Liebeskummer hast und sie dich trösten muss. Sie hat gesagt, dass du manchmal ganz schön anhänglich sein kannst, du seist so hilflos ohne sie.«
Ich errötete. Noch nie hatte ich Ellen um etwas gebeten. Es war genau umgekehrt. Und wie kam sie dazu, ihrem Vater solche Lügen über mich zu erzählen? Wie konnte sie bei ihm den Eindruck erwecken, ich sei schwach und hilflos und von einem Jungen sitzengelassen worden? Ellen starrte noch immer zu Boden.
»Das ist nicht wahr«, sagte ich leise, aber laut genug, dass er es hören konnte. Der Griff seiner Finger um meinen Arm verstärkte sich.
»Ich glaube fast«, sagte Mr Brecht, »dass meine Tochter dich als Alibi benutzt hat, Hannah.«
»Hör auf damit!«, schrie Ellen. »Halt den Mund!« Sie raffte den Saum des Kleides und rannte ins Haus. Mr Brecht und ich blickten ihr nach.
Mr Brecht seufzte.
Dann ließ er mich los, trat ein paar Schritte zurück und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf.
»Ich habe es nicht gewusst«, sagte ich.
»Du bist eine Geberin, Hannah, keine Nehmerin. Du hast ein gutes, reines Herz. Ellen ist von ihrer Mutter verdorben worden. Von ihr hat sie die Kunst des Täuschens und der Manipulation gelernt, denn darin war sie eine Expertin. Aber du als Ellens beste Freundin hast das nicht verdient. Es gefällt mir gar nicht, dass du von meiner Tochter angelogen und hintergangen wirst. Du kannst dir bestimmt vorstellen, dass es mir lieber wäre, sie wäre ehrlich zu uns.«
Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er lächelte mir zu, dann umfasste er mein Gesicht und küsste mich ganz zart auf den Scheitel.
»Du bist ein gutes, aufrichtiges Mädchen, Hannah. Es wäre besser gewesen, ich wäre an eine Frau wie dich geraten.«
Das war einer der schönsten Momente meines Lebens.
In der folgenden Zeit traf ich Ellen nur noch selten, aber kurz darauf sollte ich die Wahrheit herausfinden. Ich war bei der Arbeit im Seagull Hotel. Ein Staubtuch in der einen, den Staubsaugergriff in der anderen Hand, warf ich einen Blick zum Fenster
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