Das Dornenhaus
eines der oberen Zimmer hinaus und sah unten auf der Hafenmauer Ellen und Jago sitzen. Die Köpfe aneinandergeschmiegt, ließen sie die Beine baumeln, schauten aufs Wasser und unterhielten sich lachend. Dann beugte sich Jago zu Ellen, und sie küssten sich auf den Mund. Der Kuss schien eine Ewigkeit zu dauern.
Ellens Vater hatte also recht gehabt.
Sie hinterging uns beide.
SIEBENUNDZWANZIG
N achdem ich in dem altmodischen Badezimmer meiner Eltern gebadet hatte, ging ich ins Erdgeschoss hinunter und nahm mit meinen Eltern ein »ordentliches« warmes Frühstück zu mir. Es war lange her, dass ich so üppig gefrühstückt hatte. Während sie sich zur Sonntagsmesse in die Kirche von Trethene begaben, machte ich einen Spaziergang über die Heide zur katholischen Kirche Our Lady Star of the Sea.
Ich hatte Ellens Grab noch nie besucht. Ich war mir nicht ganz sicher, warum ich es noch nie getan hatte, aber mangelnde Gelegenheit war gewiss nicht der Grund. Nein, ich hatte es absichtlich gemieden. Wahrscheinlich wollte ich nicht, dass meine letzte Erinnerung an Ellen das Bild eines Grabsteins oder eines Friedhofs war. Aber an diesem Morgen hatte ich das Gefühl, es sei richtig, endlich ihr Grab zu besuchen, sowohl für Ellen als auch für mich. Ich hoffte, dass es mir helfen würde, mit unserer Geschichte abzuschließen. Ich hoffte, es würde dazu führen, dass Ellen mich endlich in Frieden ließ. Die Kirche war viel größer als die gedrungene kleine Seemannskirche in Trethene. Sie lag fast zwei Kilometer außerhalb des Dorfes und stand einsam und von Weitem sichtbar an einem der höchsten Punkte der Halbinsel. Der Friedhof war von Wind und Regen verwittert, die Gräber waren kreuz und quer innerhalb der Friedhofsmauer angeordnet. Ich trat durch das Tor und blieb, die Jacke eng um mich geschlungen, stehen, um mich umzublicken. Es gab Hunderte von Gräbern. Aber ich nahm an, dass man Ellen im Grab ihrer Mutter beigesetzt hatte.
Ich hatte weiche Knie, als ich den Friedhof betrat. Seit Jahren war ich Ellen räumlich nicht mehr so nahe gewesen. Ich hatte das Gefühl, als wüsste sie, dass ich hier war, als würde sie mich aus einem Versteck heraus beobachten, verborgen hinter einem Baum oder als in das silbergraue Kleid gehülltes Gespenst im Maul eines der Wasserspeier an der Kirchenfassade. Natürlich war das lächerlich. Doch ich bemühte mich vergeblich, den Gedanken zu verscheuchen. Ich konnte das Gefühl, als würden eisige Finger über meinen Nacken kriechen, nicht abschütteln.
Bestimmt liegt es am Friedhof, sagte ich mir. An den Assoziationen, die wir mit dem Tod verbinden, an den Büchern, die ich gelesen, und den Geschichten, die ich gehört hatte, über die Geister von Verstorbenen, die auf Rache sinnen. Aberglaube und Legenden hatten sich in meinem Unbewussten eingenistet und versetzten meinen Körper jetzt in Alarmbereitschaft.
So viele Tote waren auf diesem Friedhof begraben. So viele Menschen hatten ihre Seelen ausgehaucht, und übrig geblieben waren nur noch ihre Gebeine. Die meisten waren mittlerweile vergessen, als hätten sie nie existiert. Ich wusste, ich hätte Ellens Grab schon viel früher besuchen müssen, schließlich war ich ihre einzige wirkliche Freundin gewesen. Nachdem ihr Vater weggezogen und Jago nach Kanada ausgewandert war, gab es außer mir niemanden mehr, der ihr nahegestanden hatte. Aber ich hatte sie im Stich gelassen. Und nun, da ich endlich den Weg zum Friedhof gefunden hatte, hatte ich nicht einmal Blumen dabei. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, Blumen mitzunehmen, Ellen etwas mitzubringen.
Auf dem Weg die Friedhofsmauer entlang, setzte ich auf dem unebenen, von Wurzeln durchdrungenen Boden vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Ich versuchte, mich zu erinnern, wo Mrs Brecht begraben war. Ältere, ungepflegte und zugewachsene Gräber lagen verstreut zwischen den neueren, die mit Blumensträußen, Fotografien und Kränzen geschmückt waren. Einige der Grabsteine waren so verwittert, dass man kaum mehr die Inschriften erkennen konnte. »Heiligstes Herz Jesu erbarme dich meiner Seele«, las ich auf einem. Im Vorbeigehen fuhr ich mit den Fingern über den rauen oberen Rand der Grabsteine, die sich zur Seite neigten, als hätte der Wind sie gebeugt. Erst als ich den Friedhof fast umrundet hatte und wieder an der Rückseite der Kirche angelangt war, nahm ich bewusst die Eibe wahr. Der riesige, gedrungene Baum war mehr als tausend Jahre alt, wie ich wusste, und breitete
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