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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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vor wenigen Jahren war alles so anders gewesen: Ich erinnerte mich, wie Ellen und ich auf dem Rasen von Thornfield House Radschlagen geübt hatten. Damals waren wir dreizehn oder vierzehn gewesen. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie es sich angefühlt hatte, wenn sich die Welt um mich drehte, der Himmel, das Gras, das Haus. Wenn ich mich wieder aufrichtete, keuchend und ein bisschen schwindelig, eine Haarsträhne im Mund und glücklich nach der körperlichen Anstrengung. Wenn Mrs Brecht in ihrem Rollstuhl lachte und das Goldkettchen an ihrem zarten Hals im Sonnenlicht glitzerte, und wenn Mr   Brecht, unser Wettkampfrichter, sich am Kinn kratzte und sagte: Hmmm. Eine sehr schwierige Entscheidung. Und wenn er uns beiden gemeinsam den Siegerpreis überreichte – je fünfzig Pence –, obwohl alle wussten, dass Ellen viel besser Rad schlagen konnte als ich. Ich erinnerte mich, wie Mr   Brecht den Rollstuhl schob und sich auf die Griffe stützte, um ihn vorn ein wenig anzuheben, wie die Räder auf dem Plattenweg knirschten und wie sich Mr   Brecht zu seiner Frau hinabbeugte, um sie zu küssen, und wie sie den Kopf nach hinten bog und ihm die Lippen darbot. Und wie Mr   Brecht später auf der Chaiselongue neben seiner Frau saß, die die Augen geschlossen hatte, um ihre Schmerzen zu verbergen, und ihr die Fingerknöchel mit Lavendelöl massierte. Sanft und voller Zuneigung widmete er sich jedem einzelnen Knöchel. Wieder sah ich das Bild des zärtlichen, liebevollen Mr   Brecht und seiner armen Frau vor mir, ihrer großen Liebe, und das ihrer verwöhnten, frühreifen, aber damals im Großen und Ganzen noch gehorsamen Tochter.
    Ich faltete das Papierflugzeug auseinander und nahm mein Fahrrad, das an der Gartenmauer lehnte. Es war eine kurze Nachricht, die Ellen mit einem Kugelschreiber rasch auf einen Zettel gekritzelt hatte, während ich mich mit Mrs   Todd an der Haustür unterhielt.
    Sag Jago, er soll um Mitternacht zur Gartenmauer kommen und drei Mal wie eine Eule heulen. Küsschen E.
    Ich hatte so gehofft, die Nachricht wäre für mich bestimmt. Schließlich hatte ich mir die vergebliche Mühe gemacht herzukommen, um Ellen zu besuchen, und zum Dank dafür durfte ich nun Postbote spielen. Das schien mir nicht fair. Ich steckte den Brief in die Jackentasche, kletterte aufs Rad und fuhr langsam zurück.
    Wieder zu Hause, setzte ich mich an den Küchentisch und brütete über einem Referat mit dem Thema: Ähnlichkeiten zwischen den Theropoda-Dinosauriern des Mesozoikums und den heutigen Vögeln.
    Wenn ich Jago den Brief gab, würde ich eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, über die ich keine Kontrolle hätte. Ellen und Jago liebten beide das Risiko. Sie führte etwas im Schilde, auch wenn ich nicht wusste, was, und würde den Kitzel des Verbotenen genießen, und Jago würde bestimmt tun, was sie von ihm verlangte. Wäre es vielleicht besser, ihm die Nachricht gar nicht erst zu geben? Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß, dachte ich im Hinblick auf Jago, und ich würde ruhig schlafen können. Einen flüchtigen Augenblick erwog ich, den Zettel irgendwo liegen zu lassen, damit meine Eltern ihn fanden. Dann würden sie fragen, was das zu bedeuten habe, und ich würde ihnen erzählen, was ich wusste. Das würde Jagos und Ellens Heimlichtuerei und ihren Lügen ein Ende bereiten. Ich ließ mir diese Möglichkeit durch den Kopf gehen und spielte in Gedanken eine Reihe von Konsequenzen durch, doch dann meldete sich mein Gewissen zu Wort. Es erinnerte mich daran, dass Ellen meine Freundin und Jago mein Bruder war. Beide vertrauten mir. Beide dachten, ich sei auf ihrer Seite. Wir waren wie die drei Musketiere, einer für alle und alle für einen. Nein, ich konnte sie unmöglich hintergehen.
    Aber ich hätte es tun sollen. Ich hätte meinem Instinkt vertrauen und Ellens Nachricht zurückhalten sollen, aber schließlich gab ich sie Jago dann doch. Und in jener Nacht trat Ellens und Jagos Liebesgeschichte in eine neue Phase, eine, von der nur wir drei wussten. Noch während ich den Brief in der Hand hielt, wusste ich bereits, dass es zu einer Katastrophe kommen würde. Und in dem Moment, als ich ihn Jago übergab, konnte ich nichts mehr tun, um sie aufzuhalten.
    Von nun an schlich Jago fast jede Nacht wie ein Dieb aus dem Haus Nummer acht in der Cross Hands Lane und den Hügel hinauf nach Thornfield House. Manchmal kehrte er nach kurzer Zeit wieder zurück, in den Nächten, wenn im Erdgeschoss noch Licht brannte

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