Das Dornenhaus
die wenigen Pflanzen, die Mr Brechts Heckenschere entkommen waren, weil sie nicht wie Blumen aussahen. Jago hatte etwas mit diesen Motten gemein: Zielbewusst, aber lautlos bewegte er sich durch den Garten. Er kannte die Vorderfassade von Thornfield House in- und auswendig, jedes Detail des Mauerwerks war ihm vertraut und jede Stelle, wohin er seinen Fuß setzen musste; er wusste genau, wie er es anstellen musste, um zu Ellens Fenster zu gelangen.
Immer musste er auf der Hut sein. Manchmal brannte in Mrs Todds Zimmer unter dem Dach bis in die frühen Morgenstunden Licht. Dann strickte sie oder las in ihrem Bett. Und sie hatte einen leichten Schlaf und wachte beim kleinsten Geräusch auf. All die Jahre, in denen sie Mrs Brecht gepflegt hatte, hatten sie hellhörig werden lassen. Wenn Jago in Mrs Todds Zimmer Licht sah, wartete er, bis sie das kleine Badezimmer aufsuchte, das an ihr Zimmer grenzte. Sobald sie sich bei laufendem Wasserhahn die Zähne putzte, war der geeignete Moment gekommen, die Fassade hochzuklettern.
Barfuß und in ihrem Nachthemd wartete Ellen auf der anderen Seite des Fensters auf Jago. Die Tür hatte sie mit ihrem Frisiertisch verbarrikadiert. Sie half Jago, durchs Fenster hereinzuklettern, und empfing ihn mit einem Lächeln. Obwohl Ellen im Grunde stark und robust war, behandelte Jago sie so zärtlich und vorsichtig, wie er nur konnte, da er fürchtete, ihr wehzutun. Alles, was Jago wollte, war, Ellen zu retten und sie glücklich zu machen. Er wollte sie befreien. Ellen wiederum fühlte sich wie die moderne Version einer Märchenprinzessin, die von ihrem grausamen Vater in einem Turm gefangen gehalten wurde. Jago hatte sie die Rolle des Ritters in der glänzenden Rüstung zugewiesen, und diese Rolle war ihm auf den Leib geschrieben, war er selbst doch viele Jahre lang misshandelt worden. Ellen hatte sich das Schicksal, von ihrem Vater eingesperrt zu werden, zwar nicht ausgesucht, sie tat aber auch nichts, um sich ihr Schicksal zu erleichtern. Alles, was sie hätte tun müssen, wäre, ein kleines bisschen nachzugeben, ihn ein wenig bei Laune zu halten, nett zu ihm zu sein, ihn zu bemitleiden, aber Ellen blieb hart und kämpfte erbittert gegen ihn. Die Dramatik ihrer Lage gefiel ihr. Sie mochte den Nervenkitzel. Sie glaubte an ein Happy End für sich und Jago, ganz gleich, wie sehr der Konflikt zwischen ihr und ihrem Vater auch eskalierte, schließlich endeten romantische Liebesgeschichten doch immer mit einem Happy End, oder nicht? Die Figuren in einem Liebesroman lebten doch auch glücklich bis an ihr seliges Ende.
Ich wusste natürlich nicht, was zwischen Jago und Ellen geschah, nachdem er in ihr Zimmer gestiegen war, aber wenn ich schlaflos in meinem Bett lag, malte meine gequälte Phantasie es sich aus. In den Szenarien, die mein Geist ersatzweise schuf, redeten sie nicht miteinander. Sie redeten nie. Ich stellte mir vor, wie sie sich küssten, wie Ellen, die nach Zahnpasta roch, ihm begierig ihre Lippen darbot. Sie konnte seinen Kuss kaum erwarten. Dann erkundete Jago in der Dunkelheit ihren Körper. Er berührte ihr Haar, ihre Schultern, strich mit den Händen an ihren Armen hinab. Er hatte frische Nachtluft mit hereingebracht, Anklänge an Mond, Meer, Gezeiten und Wildblumen. Langsam bewegten sie sich auf das Bett zu. Während Ellen zwischen die Laken schlüpfte, zog sich Jago, neben dem Bett stehend, aus. Zuerst die Jacke, dann das T-Shirt, das er sich über den Kopf streifte, sodass Ellen im Schein des Mondes und der Sterne seine Umrisse ausmachen konnte, seine breite Brust, seine muskulösen Schultern, die dunkel behaarten Unterarme. Sie nahm seine Körperwärme wahr und sah zu, wie er seine Jeans aufknöpfte, sie zu Boden gleiten ließ, sie von den Füßen streifte. Und wie er sich schließlich seiner Boxershorts entledigte. Ein unglaublich wonniges Gefühl durchrieselte Ellen, tiefer als alles, was sie je gekannt hatte. Sie war bereit für ihn. Sie konnte es kaum erwarten. Sie konnte nicht genug von ihm bekommen.
Jago und Ellen liebten sich. Das war schließlich der Grund, weswegen sich Jago mitten in der Nacht zu Ellen begab; das war der Grund, warum sie ihn zu sich bestellte. Ein paar Wochen später, als das Glück, das diese nächtlichen Stunden ihr bescherten, Ellen ein wenig besänftigt hatten, sie milder geworden war und ich sie wieder in Thornfield House besuchen durfte, erzählte sie mir ein bisschen von diesen Nächten. Während sie mit glänzenden Augen sprach,
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